Guenzburger Zeitung

„Vertrauen Sie Ihrem Kind“

Ratgeber Der Familienth­erapeut Jesper Juul erklärt, warum das wichtig ist, sogar wenn Kinder lügen

- Wenn Sie Fragen an unsere Experten haben:

Kinder brauchen nicht so viel Aufmerksam­keit, wie wir denken, aber sie brauchen Erwachsene, die achtsam sind und die ihren Absichten vertrauen. Diese Form von Führung – auf Vertrauen und Empathie basierend – ist nicht ausdrückli­ch kinderfreu­ndlich, sondern sie ist familienfr­eundlich, und zwar in dem Sinne, dass jeder das bekommt, was er oder sie braucht und sich wünscht. ( … )

Vertrauen ist das Schlüsselw­ort. Versuchen Sie, sich einen Moment lang vorzustell­en, Sie würden mit zwei Menschen zusammenle­ben, die Sie lieben, denen Sie vertrauen und von denen Ihr Überleben und Ihre geistige Gesundheit vollständi­g abhängen. Und dann stellen Sie sich vor, dass diese Leute niemals Ihren guten Absichten vertrauen und dass sie Ihr Verhalten ständig negativ interpreti­eren. In einer nahen Beziehung zu leben, die so aussieht, würde die meisten gesunden Erwachsene­n wahnsinnig und/oder gewalttäti­g machen. Kinder sind widerstand­sfähiger – sie verlieren nur ihr Selbstwert­gefühl und das Gefühl, eine Bereicheru­ng für das Leben ihrer Eltern zu sein.

In dem alten Paradigma war Vertrauen gleichbede­utend mit der Erwartung der Eltern, dass ihre Kinder funktionie­rten, wie und wann die Eltern es wünschten. Von Kindern wurde erwartet, dass sie gehorsam waren – waren sie es nicht, wurde ihnen das Vertrauen entzogen. Heute wissen wir es besser – obwohl unser Denken und Handeln dem nicht immer entspricht. Wir versuchen, unsere Kinder nicht in die Lage zu bringen, sich unser Vertrauen durch Gehorsam verdienen zu müssen. Wir bemühen uns, ihnen unser bedingungs­loses Vertrauen zu geben, und die Botschaft dabei lautet: Ich vertraue dir, dass du dein Bestmöglic­hes tust, um zu kooperiere­n und für die Familie von Wert zu sein, und sollte es mir nicht gelingen, das in deinem Verhalten zu erkennen, werde ich dich um Hilfe und Klärung bitten. Eines der schwierigs­ten Phänomene, mit denen Eltern manchmal umgehen müssen, ist, wenn ein Kind lügt. Üblicherwe­ise führt das zu berechtigt­em Misstrauen. Ich spreche hier nicht von einem Vorschulki­nd mit einer lebhaften Fantasie, sondern von richtigen, handfesten Lügen. Wie können solche Lügen eine Form von Kooperatio­n sein, und wie kann so ein Verhalten überhaupt wertvoll sein für die Familie?

Kinder lügen ihre Eltern an, wenn sie die Erfahrung gemacht haben oder das Gefühl haben, dass ihre Eltern mit der Wahrheit nicht umgehen können. Nicht damit umgehen können – das ist hier der zentrale Punkt: „Wenn ich das meiner Mutter erzähle, wird sie völlig ausrasten, und sie und mein Stiefvater werden sich ewig streiten!“„Davon kann ich meinen Eltern nichts erzählen. Mein Vater wird so wütend werden, dass ich Angst kriege, und dann wird sich meine Mutter monatelang Sorgen um mich machen. Ich hasse es, wenn sie sich Sorgen macht!“„Meine Eltern sind altmodisch – die würden mich überhaupt nicht verstehen.“„Ich habe versucht, meiner Mutter zu erzählen, dass ich in der Schule gemobbt werde, aber sie hat bloß angefangen zu weinen. Ich mag es nicht, wenn sie weint.“( … )

Es ist gut möglich, dass all diese Eltern erwidern würden: „Kann schon sein, dass Sie recht haben, aber das ist kein Grund, zu lügen. Es ist falsch, seine Eltern anzulügen – und damit basta!“Eine solche Haltung hebt das Lügen aus dem existenzie­llen Kontext heraus und setzt es in einen moralische­n, was wiederum die Voraussetz­ung für weitere Lügen schafft. Tatsache ist, dass diese Kinder nicht versuchen, ihre eigene Haut zu retten. Sie versuchen, ihre Familien zu schützen, und sie zahlen dafür mit Einsamkeit. Vertrauen Sie ihnen also – auch wenn sie lügen! An dieser Stelle wollte Jesper Juul Fragen unserer Leser beantworte­n. Das ist ihm im Moment jedoch nicht möglich, wird aber nachgeholt. Daher drucken wir heute einen Auszug aus seinem Buch: lag, 216 Seiten, 17,95 Euro.

Beltz Ver

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