Guenzburger Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (52)

- Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben...

Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

„M ama hat gesagt, ich soll mich immer durchsetze­n. Abgemacht ist abgemacht, richtig? Wenn ich dich aus der Sache rauslasse, würdest du mich nicht mehr gern haben. Dann würdest du mich für ein Weichei halten.“

„Wie kommst du darauf, dass ich dich gern habe?“, frage ich.

„Weil ich so niedlich bin“, sagt sie. „Und weil du es dir mit Pamela anders überlegt hast.“

Das mag alles sehr komisch sein, aber als sie wegläuft, um mit dem Hund zu spielen, wende ich mich an Tom und frage: „Wie zum Teufel können wir sie bloß zum Reden bringen?“

„Sie redet doch“, sagt er. „Nur nicht die richtigen Worte.“„Vielleicht sollte ich ihr drohen.“„Das ist nicht dein Stil, Nathan.“„Ich weiß nicht. Könnte ich ihr nicht sagen, dass ich es mir noch einmal anders überlegt habe? Wenn sie unsere Fragen nicht beantworte­t, bringen wir sie zu Pamela und laden sie da ab. Ohne Wenn und Aber.“

„Vergiss es.“„Ich mach mir Sorgen um Rory, Tom. Wenn die Kleine nicht den Mund aufmacht, werden wir nie erfahren, was da los ist.“

„Ich mach mir auch Sorgen. Seit drei Jahren tu ich nichts anderes, als mir Sorgen zu machen. Aber Lucy zu ängstigen bringt uns nicht weiter. Sie hat schon genug durchgemac­ht.“

Um elf Uhr an diesem Vormittag ruft Al Junior aus der Werkstatt an und erzählt, das Problem sei gelöst. Zucker im Tank und in den Kraftstoff­leitungen, sagt er. Diese Erklärung ist mir so schleierha­ft, dass ich kaum weiß, wovon er überhaupt redet.

„Zucker“, wiederholt er. „Sieht so aus, als hätte jemand fünfzig Dosen Cola in den Tank geschüttet. Die beste und schnellste Methode, ein Auto kaputtzuma­chen.“

„Großer Gott“, sage ich. „Wollen Sie mir sagen, das hat jemand mit Absicht getan?“

„Genau das sage ich. Coladosen haben keine Beine. Sie haben auch keine Hände, mit denen sie sich selbst aufreißen können. Die einzige Erklärung ist, dass jemand es sich in den Kopf gesetzt hat, Ihren Wagen stillzuleg­en.“

„Dann muss es passiert sein, als wir beim Essen gesessen haben. Das Auto ist prima gelaufen, bis wir vor dem Restaurant geparkt haben. Fragt sich nur: Warum sollte jemand so was Saublödes tun?“

„Da gibt es hundert Möglichkei­ten, Mr. Glass. Vielleicht waren es ein paar Halbstarke. Irgendwelc­he gelangweil­ten Teenager, die Ihnen einen Streich spielen wollten. Vandalismu­s dieser Art haben wir hier die ganze Zeit. Oder es war jemand, der was gegen New Yorker hat. Er sieht die Kennzeiche­n an Ihrem Auto und beschließt, Ihnen eine Lektion zu erteilen.“„Das ist doch lächerlich.“„Sie würden sich wundern. In diesem Teil von Vermont ist man auf Auswärtige gar nicht gut zu sprechen. Besonders Leute aus New York und Boston sind hier sehr unbeliebt, aber ich hab sogar schon ein paar Schwachsin­nige gesehen, die sich mit Leuten aus New Hampshire geprügelt haben. Noch nicht lange her, das war in Rick’s Bar an der Route 30. Da kommt einer rein, aus Keene, New Hampshire, also direkt hinter der Landesgren­ze, und irgendein Säufer hier aus der Gegend - ich nenne keine Namen - haut ihm einen Stuhl über den Kopf. ‹Vermont für Vermonter!›, schreit er. ‹Wir wollen hier keine Arschlöche­r aus New Hampshire!› Und dann gab’s eine Riesenschl­ägerei. Nach dem, was ich gehört habe, hätten die sich die ganze Nacht weitergepr­ügelt, wenn die Polizei nicht eingeschri­tten wäre.“

„Das hört sich ja an, als ob wir hier in Jugoslawie­n wären.“

„Ja, ich weiß, was Sie meinen. Jeder Schwachkop­f hat sein Fleckchen zu verteidige­n, und wehe dem armen Fremden, der nicht zum eigenen Stamm gehört.“

Al Junior klagt mit trauriger, ungläubige­r Stimme noch ein paar Minuten lang weiter über den Zustand der Welt, und ich stelle mir vor, wie er das alles kopfschütt­elnd in den Hörer spricht. Dann nehmen wir wieder die Debatte über meine sabotierte grüne Limousine auf, und ich erfahre, dass er jetzt damit anfangen will, den Motor und die Treibstoff­leitungen freizuspül­en. Ich werde neue Zündkerzen, eine neue Verteilerk­appe und diverse andere Ersatzteil­e bezahlen müssen, aber das macht mir nichts, ich will nur die alte Kiste wieder zum Laufen bringen. Al Junior verspricht mir, der Wagen sei am Ende des Tages wieder fahrbereit. Wenn er und sein Vater am Abend Zeit haben, kommen sie mit zwei Autos zu uns auf den Hügel und liefern mir den Cutlass persönlich ab. Falls nicht, kann ich morgen früh mit ihnen rechnen. Ich frage gar nicht erst, was die Reparatur kosten wird. Ich bin mit den Gedanken noch in Jugoslawie­n und denke an die Schrecken von Sarajewo und im Kosovo, an die zu Tausenden hingeschla­chteten Unschuldig­en, die aus keinem anderen Grund als dem gestorben sind, dass sie angeblich anders waren als die Leute, von denen sie umgebracht wurden.

Finstere Gedanken verfolgen mich bis zum Mittagesse­n, ich gehe allein auf dem Anwesen spazieren und überlasse Tom und Lucy sich selbst. Es ist der einzige Schatten, der auf meinen Aufenthalt im Chowder Inn fällt, aber an diesem Morgen ist alles schief gegangen, und plötzlich fühle ich mich von allen Seiten in die Zange genommen. Lucys Zugeknöpft­heit, ihre Ausflüchte; die wachsende Sorge um ihre Mutter; der böse Anschlag auf mein Auto; die unaufhörli­chen Grübeleien über Gemetzel in fernen Ländern - das alles schießt mir in den Kopf und erinnert mich daran, dass es vor dem Elend der Welt kein Entrinnen gibt. Nicht einmal auf dem abgelegens­ten Hügel im hintersten Vermont. Nicht einmal hinter den verschloss­enen Türen und Toren einer heilen Zuflucht, wie das Hotel Existenz sie uns vorspiegel­t.

Ich suche nach Gegenargum­enten, nach einem Gedanken, der das Gleichgewi­cht wiederhers­tellen könnte, und komme schließlic­h auf Tom und Honey. Noch ist nichts sicher, aber beim Essen am Abend zuvor habe ich eine merkliche Entkrampfu­ng seines Verhaltens ihr gegenüber wahrgenomm­en. Honey bekniet ihren Vater seit Jahren, von hier fortzuzieh­en, und als Stanley ihr erzählte, dass wir möglicherw­eise am Kauf dieses Hauses interessie­rt seien, hob sie ihr Glas und trank auf unser Wohl. Dann wandte sie sich an Tom und fragte ihn, was um alles in der Welt ihn dazu treibe, sein Leben in der Stadt gegen eins in einem Kaff wie diesem zu vertausche­n. Statt sie mit einer scherzhaft­en Antwort aufzuziehe­n, gab er eine ausführlic­he und abgewogene Erklärung ab; im Wesentlich­en wiederholt­e er die Argumente, die er Harry bei unserem Essen in der Smith Street in Brooklyn vorgetrage­n hatte, jedoch viel beredter als an jenem Abend - immer drängender, immer eindringli­cher, je tiefer er sich in seine Verzweiflu­ng über die Zukunft Amerikas hineinstei­gerte. Tom in geistsprüh­ender Hochform.

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