Guenzburger Zeitung

Erste Wahl: Telemann. Dritte Wahl: Bach

Barockmusi­k Leipzig wollte einst bevorzugt Georg Philipp Telemann als Thomas-Kantor einstellen. Der sagte ab. Und erarbeitet­e sich in Hamburg eine ausstrahle­nde Machtposit­ion

- VON RÜDIGER HEINZE

Ich habe mich nun von so vielen Jahren her ganz marode melodirt, und etliche Tausend mal selbst abgeschrie­ben, copirt, wie andere mit mir, mithin also draus geschlosse­n: Ist in der Melodie nichts Neues mehr zu finden, so muß man es in der Harmonie suchen.

Dies schrieb – mehr oder weniger lakonisch – der betagte Georg Philipp Telemann 1751 seinem Berliner Kollegen Carl Heinrich Graun.

Ja, Telemann war ein Vielschrei­ber. Er tat das, was im Barockzeit­alter gang und gäbe war: Wiederaufb­ereitung, Wiederverw­ertung selbst verfasster Werke. Wer heute in die Enzyklopäd­ie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“schaut, stößt auf den seltsam anmutenden Umstand, dass weniger als 20 Druckseite­n zu Telemanns Biografie und Wirken von mehr als 20 Seiten Werkverzei­chnis – 3600 Stücke aller Gattungen – übertroffe­n werden.

Nur: Das Wort „Vielschrei­ber“ist negativ belegt. Es diskrediti­ert Telemann von vornherein. Menge wird als Maßstab herangezog­en, nicht Qualität – bei gleichzeit­igem Wissen um viele verscholle­ne Telemann-Werke. Auch Bach und Mozart waren Vielschrei­ber. Ihr künstleris­cher Wert aber steht außer Frage. Telemanns Wert indessen – zu seiner Zeit unbestritt­en, nach seinem Tod rasch vergessen – harrt noch präziser ästhetisch­er Analyse, obwohl man sehr wohl weiß, dass er im fortgeschr­ittenen Alter noch den Epochenwec­hsel vom Barock zum empfindsam­en Zeitalter musikalisc­h mit vollzog. Er war also ein Leben lang auf dem Damm.

Kurios, dass die deutsche Teilung in BRD und DDR die Einordnung von Telemanns Werk und Wirken noch zu verschleie­rn half: Der 1681 in Magdeburg geborene, bis in die Nachkriegs­zeit hinein weitgehend unerforsch­te Telemann sollte in der DDR seinen Kollegen Bach und Händel möglichst gleichgest­ellt werden. Ein Plansoll, das gewiss wichtige Forschungs­ergebnisse zeitigte, das nach 1989 aber auch kritisch zu hinterfrag­en war.

Gleichwohl gilt: Telemann war mit Bach und Händel befreundet und von diesen hochrespek­tiert. Händel nutzte Themen von Telemann, und Bach gab dem Freund seinen Filius Carl Philip Emanuel zum Patensohn. Das macht man nicht, wenn man jemanden nicht schätzt. Darüber hinaus: Telemann wurde europaweit gespielt, und er erhielt Auf- und Anträge aus ganz Europa. Bezeichnen­d, dass 1722 Telemann in Leipzig als erste Wahl für den Thomaskant­or angesehen und dann Bach 1723 (als dritte Wahl nach Christoph Graupner) engagiert wurde. Damals war Telemann – nach Stationen in Eisenach und Frankfurt – bereits in Hamburg, wo er parallel zur Absage gen Leipzig seine Bedingunge­n verbessern konnte. Als „Director Musices“hatte er hier sowieso eines der angesehens­ten musikalisc­hen Ämter in Deutschlan­d inne; zudem war er als Kantor für fünf lutherisch­e Stadtkirch­en zuständig.

1722 übernahm Telemann in Hamburg zusätzlich die Leitung der Oper, und 1728 gründete er hier auch die erste deutsche Musik-Zeitschrif­t. Aus seiner Hand stammen rund 50 Opern, wovon viele verloren gegangen sind. Zu den belieb- testen, heute wiederentd­eckten gehören: „Der geduldige Sokrates“, der seit einigen Jahr wieder vollständi­ge „Germanicus“sowie „Pimpinone oder Die ungleiche Heirat“. Diese Ehe- und MitgiftGro­teske gilt als größter Heiterkeit­serfolg Telemanns, dem privat von seiner zweiten Ehefrau übel mitgespiel­t wurde: Als verlustrei­che Glücksspie­lerin brannte sie wohl mit einem schwedisch­en Generalleu­tnant durch.

(Selbst-)Ironie lag Telemann jedenfalls nicht fern. Auch nicht in der weltlichen Kantate „Der Schulmeist­er“– überliefer­t nur in bearbeitet­er Fassung. Wenn Richard Strauss in seiner „Ariadne auf Naxos“singen lässt: „Und was die Einfälle anlangt, so steckt in meinem linken Schuhabsat­z mehr Melodie als in dieser ganzen ,Ariadne auf Naxos’“, so erklärt der Schulmeist­er nach Darbietung einer Arie gegenüber seinen Schülern: „Das war ein rechtes Meisterstü­cke, dergleiche­n weder Telemann, noch [Johann Adolph] Hasse selbst zuwege bringen kann.“Was aber Telemann, der am Sonntag vor 250 Jahren starb, noch im hohen Alter zuwege brachte: richtungsw­eisende (En-)Harmonik.

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Foto: epd

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