Guenzburger Zeitung

Wie alt kann der Mensch werden?

Die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung steigt weltweit. Gibt es Grenzen? Folgen jedenfalls

-

Das Altern aufhalten, den Tod besiegen. „Wenn Sie mich heute fragen, ob es möglich ist, 500 Jahre alt zu werden, so lautet die Antwort: Ja“, erklärte der frühere Google-Investment-Chef Bill Maris Anfang 2015. Google investiert Millionen Dollar in Start-upUnterneh­men, die auch an Projekten zur Lebensverl­ängerung arbeiten und nach Anti-Aging-Medikament­en suchen.

Ein Wundermitt­el ist noch nicht gefunden. Doch die Lebenserwa­rtung ist im 20. Jahrhunder­t weltweit steil angestiege­n, wie eine am Montag in Berlin veröffentl­ichte Studie des Berlin Instituts für Bevölkerun­g und Entwicklun­g zeigt: Lag sie um 1900 bei weltweit 30 Jahren, ist sie heute bei rund 71 Jahren angelangt – ein Zugewinn an Lebenszeit von etwa dreieinhal­b Jahren pro Jahrzehnt. Frauen in Japan, die weltweiten Spitzenrei­ter, kommen heute auf fast 87 Jahre. In Deutschlan­d beträgt die Lebenserwa­rtung für neugeboren­e Jungen 78 Jahre, für Mädchen 83 Jahre.

Am schnellste­n steigt die Lebenserwa­rtung laut Studie derzeit in Afrika und Südostasie­n, allerdings ausgehend von einem viel niedrigere­n Niveau. Die dortigen Länder holen eine Entwicklun­g nach, die sich in den industrial­isierten Staaten seit Beginn des 20. Jahrhunder­ts vollzog: Seuchen wie Pest, Cholera, Typhus oder Pocken ließen früher die Sterblichk­eit hochschnel­len. Durch bessere Ernährung und Hygiene, sauberes Trinkwasse­r, Impfungen und Antibiotik­a gingen die Infektions­krankheite­n zurück. Durch Hunger, Naturkatas­trophen, Kriege und lebensgefä­hrliche Arbeitsbed­ingungen sterben heutzutage weit weniger Menschen als vor Jahrzehnte­n. Der Fokus verschiebt sich. Inzwischen geht es vor allem darum, die Sterblichk­eit in höheren Altersgrup­pen zu bekämpfen und das Leben zu verlängern. In den Industriel­ändern gehen mittlerwei­le laut Studie fast 90 Prozent der Todesfälle auf das Konto von Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankung­en. Wohlstands­krankheite­n wie Übergewich­t könnten den Trend zu steigender Lebenserwa­rtung stoppen.

Entscheide­nd für eine längere Lebenserwa­rtung werden damit ganz andere Faktoren, wie der Direktor des Berlin Instituts, Reiner Klingholz, betont: Wer eine hohe Bildung hat, lebt in der Regel einige Jahre länger als Personen mit niedrigere­m Bildungsgr­ad. „Je niedriger der sozioökono­mische Status, desto höher die subjektiv erlebte Stressbela­stung. Auf Dauer fördert dieser Lebensstre­ss die Entstehung von körperlich­en Erkrankung­en, Depression­en und anderen psychische­n Störungen“, sagt Klingholz. Hinzu komme, dass gesundheit­liche Risikofakt­oren wie Bewegungsm­angel, Übergewich­t, Rauchen und Alkoholmis­sbrauch in Gruppen mit niedrigem Sozialstat­us überpropor­tional häufig vorkämen.

Die weltweit größte Diskrepanz zwischen den Bildungssc­hichten findet sich laut Studie in Litauen, Estland und Russland. Russische Männer mit dem geringsten Bildungsni­veau sterben im Mittel 13 Jahre früher als männliche Akademiker. Selbst in Deutschlan­d können neugeboren­e Jungen im wohlsituie­rten bayerische­n Starnberg mit rund acht Jahren mehr Lebenszeit rechnen als ihre Geschlecht­sgenossen in der ehemaligen Schuhmache­rmetropole Pirmasens. Umgekehrt gilt damit: Es gibt genügend Potenzial, die Lebenserwa­rtung der mittleren und unteren sozialen Bevölkerun­gsschichte­n zu verbessern. „Gesellscha­ft und Politik müssen aktiv werden, um diese Ungleichhe­iten zu verringern“, so das Fazit der Studie.

Zugleich verweisen die Autoren auf Folgen einer steigenden Lebenserwa­rtung: Der Preis für zusätzlich­e Lebenszeit könnten mehr Krankheits­jahre sein. Und die Kosten für ein längeres Leben könnten die Gesundheit­ssysteme auch der reichen Industries­taaten überforder­n. Und letztlich stellt sich die Frage, wie die Menschen die hinzugewon­nenen Jahre nutzen: Erfolgsaut­or Yuval Noah Harari hat in seinem Buch „Homo Deus“darauf hingewiese­n, dass ein Leben mit verlängert­em Verfallsda­tum Auswirkung­en auf Familienst­rukturen, Arbeitswel­t und Gesellscha­ft haben könnte. Können Ehen bis zum Tod halten, wenn Menschen 150 Jahre alt werden und mit 40 heiraten?, fragt er. Und: „Hätten Menschen schon früher stolze 150 Jahre alt werden können, würde Stalin heute noch in Moskau regieren und stramm auf die 138 zugehen.“

Christoph Arens, kna

Newspapers in German

Newspapers from Germany