Guenzburger Zeitung

Mit Zeus begannen Europas Probleme

- HISTORISCH­E STREIFZÜGE MIT RAINER BONHORST

Ist Europa gar nicht europäisch? Die alten Griechen, die das Wort zuerst in den Mund nahmen, berichten, die schöne Europe sei eine phönizisch­e Königstoch­ter gewesen. Sie gehörte einem Volk an, das den östlichen und südlichen Rand des Mittelmeer­s beherrscht­e, also die Levante und Nordafrika. Die schöne Europe kam auch nicht freiwillig aus ihrer Heimat nach Europa. Zeus, dieser Schwerenöt­er, hat sie gewaltsam zu uns gebracht. Er hat sich in einen Stier verwandelt und ist mit der Schönen auf seinem breiten Rücken nach Kreta entschwund­en, also an den äußersten Rand Europas. So weit Zeus, der Verführer. Der Historiker Herodot hat den Namen der Verführten dann an unseren Kontinent weitergere­icht.

Allerdings hatte Herodot von den Ausmaßen des von ihm getauften Kontinents nur eine vage Vorstellun­g: Griechenla­nd und nördlich und westlich davon ein buntes, ungewisses Allerlei. Und bis auf den heutigen Tag umgibt ein Hauch des Ungewissen diesen Kontinent, weshalb der französisc­he Publizist Bernard-Henry Lévy sagte, Europa sei kein Ort, sondern eine Idee. Trotzdem musste jemand unserem Europa eine einigermaß­en feste Verortung geben. Das tat der 1677 geborene deutsch-schwedisch­e Geograf Philipp Johann von Strahlenbe­rg. Er legte den Ural als Grenze zwischen Europa und Asien fest, und vom Ural nahm er eine Kurve hinunter zum Kaspischen Meer. Oder so ähnlich. Eine allgemeing­ültige, offizielle Festlegung gibt es bis heute nicht. Schon das Uralgebirg­e zerfasert im Süden, sodass es dort keine klare geografisc­he Grenze mehr bildet. Weiter unten wird es noch ungewisser, weil auch der Verlauf des Uralflusse­s nicht jeden überzeugt. Das erlebte auch Strahlenbe­rgs Zeitgenoss­e, der russische Geograf Wassili Nikititsch Tatischtsc­hew. Er versuchte im Auftrag Peters des Großen eine Grenze zu ziehen. Ein allgemeing­ültiges Ergebnis lieferte auch er nicht. Was also kann man über den europäisch­asiatische­n Grenzverla­uf sagen? Auf jeden Fall geht durch Russland die längste Kontinenta­lgrenze. Die Türkei hat das kleinste europäisch­e Zipfelchen. Das Zipfelchen ist allerdings besonders attraktiv und ureuropäis­ch: Hier stand stolz das einstige Byzanz, die Hauptstadt Ostroms. Den alten Zeus haben solche Grenzfrage­n nicht gekümmert, als er die schöne Europe entführte.

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