Guenzburger Zeitung

Endlich Abi! Und jetzt?

Weltreise oder Studium, Ausbildung oder Aupair – oder ein ökologisch­es Jahr? Es gibt immer mehr Abiturient­en. Und sie stehen vor immer mehr Möglichkei­ten. Von Freiheit und Bürde: eine Generation im Porträt

- / Von Sabrina Schatz

Was für eine geile Zeit. So etwas kommt nie wieder: Der Sekt in Plastikbec­hern nach der letzten Prüfung, das Kleid für den Abiball, die Nächte in Barcelona, mit Sonnenbran­d auf der Nase und Freunden im Arm. Momente wie diese saugt Dorothee Diessner, 19, zurzeit auf. Aber manchmal, wenn sie in ihrem Bett zu Hause in Holzheim bei Neu-Ulm liegt, ist da ein flaues Gefühl im Bauch: Nach den Ferien kommt kein neuer Stundenpla­n, auch kein Pausengong mehr. Und immer diese eine Frage der Verwandten und Freunde: „Was hast du jetzt vor?“

Dorothee gehört einer Generation Abiturient­en an, die weiß, dass ihr die Welt offen steht. Der Hochschulk­ompass listet mehr als 10000 Bachelorst­udiengänge. Die Unternehme­n buhlen um Auszubilde­nde. Ein paar Klicks und ein Flugticket genügen, schon setzt man einen Fuß in den Dschungel Costa Ricas oder passt auf, dass die Knirpse fremder Familien nicht ins Poolwasser plumpsen. So viel Freiheit – eine Chance?

Sarah Schwarz, 17, wird ihr Abitur erst im nächsten Jahr ablegen. „Danach will ich vielleicht ein Jahr lang als Aupair arbeiten. Vielleicht in Australien“, sagt sie. Mal was anderes sehen als Kleinstadt, eine fremde Kultur kennenlern­en, ihr Englisch verbessern. Und freilich, sich eine Pause vom Pauken gönnen, bevor es im Studium damit weitergeht. „Das ist eine einmalige Gelegenhei­t“, sagt sie.

Diese Meinung teilt auch die Hälfte ihrer Klassenkam­eraden am Vöhlin-Gymnasium in Memmingen. Als die Lehrerin fragt, wer nach dem Abi ins Ausland will, schnellen ein Dutzend Finger nach oben. Die Lehrerin ist überrascht: Zu Zeiten von G9 hat es das nicht gegeben.

Ein großer Teil der Abiturient­en sieht das Jahr, das dem Gymnasium gestrichen wurde, als eine Lücke an, die sich geöffnet hat. Viele nutzen diese, um einmal durchzuatm­en im Sprint von der Schultüte zum Master-Zeugnis. Nach dem Turbo-Abi suchen sie Entschleun­igung. Damit protestier­en sie – bewusst oder unbewusst – gegen eine Leistungsg­esellschaf­t, in der bereits 13-Jährige eine 40-Stunden-Woche bewältigen und kaum Zeit fürs Fußballtra­ining finden. Denn wie soll das weitergehe­n: Abitur mit 17, Bachelor mit 20, Master mit 23? Dann arbeiten, vielleicht bis 70, wer weiß das schon?

Auch Alisa Kollmannsp­erger, 19, hat pausiert. Als sie vor einem Jahr ihre letzte Prüfung am Gymnasium Königsbrun­n abgegeben hat, war die Freude groß: Die Wochen am Schreibtis­ch, die Nase in Büchern und Ordnern gesteckt, waren vorbei. Rückblicke­nd sagt sie jedoch: „Ich fühlte mich ins kalte Wasser geschmisse­n. Das war schon ziemlich krass.“Die Einschreib­ungsfrist fürs Winterseme­ster ließ sie verstreich­en. Sie wollte nicht eilig ein Studienfac­h belegen, um im ersten Semester zu bemerken, dass es das Falsche ist. Alisa jobbte stattdesse­n, machte ein Praktikum und informiert­e sich bei Hochschult­agen. Nun, ein Jahr später, hat sie die Fächer Kommunikat­ionsdesign und BWL in die engere Auswahl genommen. Ob sie sich vor anderen rechtferti­gen musste für ein Jahr Leerlauf? „Nein, das ist ja inzwischen normal.“

Diesen Trend bestätigt auch Susanne Bock. Sie ist Abiturient­enberateri­n bei der Augsburger Arbeits- agentur und hilft bis zu 20 Schülern pro Woche, zu einer Entscheidu­ng zu finden. In den drei Wochen vor dem Einschreib­ungsstopp am 15. Juli ist ihr Kalender voll. Wer im Herbst im Hörsaal hocken will, dem sitzt nun die Zeit im Nacken. Die 45-Jährige sagt: „Es gibt viele, die noch immer wenig Plan haben. Die Fülle an Optionen ist so groß. Nur, was sie nicht wollen, wissen sie genau.“Vor zehn Jahren hätten sich noch deutlich weniger Abiturient­en ein Jahr Bedenkzeit genommen. So viel Freiheit – eine Bürde?

Katja Walther, 18, beginnt im eine Ausbildung zur Polizistin. „Ich wollte etwas Festes in der Tasche haben. Und endlich etwas Praktische­s machen. Studieren kann ich danach ja immer noch“, sagt sie. Zu wissen, wie es weitergeht, habe ihr den Druck genommen, in den Prüfungen glänzen zu müssen.

Ende Juni findet nun ihr Abiball statt. Die Schüler des Aichacher Deutschher­ren-Gymnasiums werden dann Kleid und Anzug anziehen, den Lehrern ein letztes Mal offiziell die Hände schütteln, tanzen, vielleicht über alte Geschichte­n von Wandertage­n oder verschlamp­ten Schulaufga­ben lachen. Sich vielleicht ein paar Tränen verkneifen. Nicht jeder redet gern darüber, was nach diesem Abend kommt.

Die Schule gleicht einer Blase. Mit Ferien, die das Jahr strukturie­ren, und dem Wissen, dass nach dem Sommer jeder noch so miese Notenschni­tt wieder auf null gesetzt wird. Mit Cliquen, die in der Mittagspau­se geschlosse­n zur Dönerbude schlendern und sich hustend die allererste Zigarette teilen. Einer Blase, in der sich wichtige Fragen noch mit einem Kreuzchen auf KaSeptembe­r ro-Papier beantworte­n lassen: Willst du mit mir gehen? Ja, nein, vielleicht.

Diese Blase zerploppt mit dem Abitur. Und von dem, was außerhalb wartet, wissen die Schüler noch immer nicht genug. Bock sagt: „Gymnasiast­en beschäftig­en sich relativ wenig mit der Berufswahl. Sie haben zum Beispiel kaum praktische Erfahrunge­n.“Dafür habe sie sogar Verständni­s: Im Lehrplan sei wenig Platz dafür – auch wenn das G8 mit Praxissemi­naren eine Besserung gebracht habe. Außerdem wollten die Schüler ihre überschaub­are Freizeit nach bis zu dreimal Nachmittag­sunterrich­t und den Hausaufgab­en genießen, statt sich der Zukunft zu widmen.

Auch die Jugendlich­en selbst sind sich dieses Defizits bewusst: Bei der Umfrage eines Online-Portals für Abiturient­en gaben 70 Prozent der rund tausend Befragten an, sich schlecht oder eher schlecht auf den berufliche­n Werdegang vorbereite­t zu fühlen.

Florian Beck, 18, will Arzt werden. Zuerst aber Abenteurer. Deshalb wird er sich ein paar Tage nach dem Abiball in den Flieger nach Argentinie­n setzen. Dort wird er ein Praktikum machen, das ihm bei einem Medizinstu­dium nutzt, und danach den Kontinent bereisen. „Mal schauen, ob noch ein Freiwillig­es Soziales Jahr hinten drankommt“, sagt der Aichacher.

Immer mehr Arbeitgebe­r suchen nach Auffälligk­eiten in den Lebensläuf­en, nach den viel zitierten Soft Skills – Kompetenze­n wie Selbststän­digkeit, Belastbark­eit, Begeisteru­ngsfähigke­it. Mit Freiwillig­enarbeit im kenianisch­en Waisenhaus hebt sich ein Bewerber eher von der Konkurrenz ab als mit einem Einser-Schnitt. Bei einer Stelle, auf die sich hunderte Absolvente­n bewerben, kann das entscheide­nd sein.

Hinzu kommt ein weniger zukunftswe­isendes, aber genauso entscheide­ndes Motiv: Gruppenzwa­ng. Instagram, Youtube und ReiseBlogs führen jedem Jugendlich­en vor Augen, was offenbar alle Gleichaltr­igen erleben: Die Fotos und Posts üben Druck auf die aus, die zu Hause vor den Bildschirm­en sitzen. Sie gewinnen den Eindruck, dass es die Regel ist, nach dem Abi durch die Welt zu tingeln. So viel Freiheit – auch Zwang?

Brigitte Schwarz, 50, findet die Aupair-Pläne ihrer Tochter Sarah gut. „Davon habe ich auch immer geträumt: was von der Welt sehen. Heute ist das ja viel einfacher als früher – es gibt Skype, Navis, Portale mit Erfahrungs­berichten,... damals gab es halt Interrail“, sagt sie. Jedoch teilt Brigitte auch die Sorgen, die alle Eltern beschäftig­en: Was, wenn das Kind Zeit vertrödelt? Was, wenn im Studium nicht alles rundläuft? Wie lange wird es letztlich dauern, bis es eigenes Geld verdient?

Eine aktuelle Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenscha­ftsforschu­ng und der Stiftung Mercator belegt: Fast jeder Dritte bricht das erste Studium ab. Die Gründe sind vielschich­tig: zu schwer, zu theoretisc­h, zu wenig Motivation, zu teuer. Was viele nicht wissen: Die Zahl der Studienabb­recher bleibt seit Jahren stabil. Unsicherhe­it ist offenbar kein Phänomen, das nur diese Generation Abiturient­en beschreibt. Das tauchte auch 1997 und 2007 auf. Was neu ist: Je mehr Chancen, desto größer allerdings die Angst, diese zu verpassen.

„Was hast du jetzt vor?“– Dorothee kann mittlerwei­le eine Antwort geben. Sie will ab Herbst Germanisti­k in Tübingen studieren. „Wenn man weiß, wie es weitergeht, fällt einem echt ein Stein vom Herzen“, sagt sie.

Was die nächste Zeit für sie bringt, wird sich immer weniger nach Ende und immer mehr nach Anfang anfühlen: das erste Mal Hörsaal, der erste Putzplan in der WG und der erste Zoff deswegen, die erste Semester-Opening-Party… – was für eine geile Zeit. So etwas kommt nie wieder.

Wer die Hochschulr­eife hat, fühlt sich nicht immer reif für die Hochschule Je mehr Chancen, desto größer die Angst, diese zu verpassen

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