Guenzburger Zeitung

Welche Chancen Afrika bietet

G20 Gipfel Für viele Menschen in Äthiopien ist das Leben besser geworden. Auch dank deutscher Hilfe. Dank Projekten, die Familien zeigen, wie sie ihre Felder bewirtscha­ften und die den Jüngeren eine Ausbildung ermögliche­n. Davon will auch Deutschlan­d prof

- AUS ÄTHIOPIEN BERICHTET ANDREA KÜMPFBECK

Mekane Selam Guday Zewde ist zwölf, als ihre Eltern sie verheirate­n. Mit einem Mann, der 20 Jahre älter ist als sie und den sie nie zuvor gesehen hat. „Ich wollte das nicht“, sagt die heute 60-Jährige, „ich war ein Kind.“Ein Jahr lang harrt sie in der Hütte ihres Ehemannes aus – verschreck­t, verzweifel­t, verstört. „Ich habe nur geweint“, erzählt Guday Zewde, „immer nur geweint.“Eines Tages läuft sie weg, heim zu den Eltern. Die nichts Besseres zu tun haben, als einen neuen Ehemann für sie zu suchen. Ein paar Wochen später ist sie wieder verheirate­t. Mit einem Burschen, acht Jahre älter als sie. „Er war ein guter Mann“, sagt Guday Zewde, an deren hagerem, tief zerfurchte­m Gesicht man ablesen kann, dass sie viel durchgemac­ht hat in ihrem Leben.

Als kleines Mädchen wird sie beschnitte­n, weil es die Tradition so Hand machte. Es gibt Universitä­ten, wo auch Mädchen studieren dürfen. Es gibt einen neuen Ofen aus Lehm, der zum Kochen viel weniger Brennholz braucht. Und es gibt einen Brunnen im Dorf, nur wenige Schritte von ihrem Haus entfernt.

„Die Zeiten haben sich geändert.“Es ist der Satz, den Guday Zewde an diesem Nachmittag am häufigsten sagen wird. Und dass das gut ist für ihre Enkelin, für ihr Dorf, für Äthiopien. Wie sehr und wie schnell sich das Leben in Afrika in den letzten 50 Jahren gewandelt hat und welch riesige Chancen der Kontinent bietet, sieht man an Guday Zewdes Tochter Silma Yegoraw, 40, und ihrer Enkelin Sebil Tadesse, 18.

Denn die Familie hat es – mit deutscher Hilfe – geschafft. Sie hat heute ein besseres Leben, eine Perspektiv­e. Sie ist ein Beispiel für den aufstreben­den Kontinent mit seiner jungen, dynamische­n Bevölkerun­g, die sich bis 2050 auf 2,4 Milliarden verdoppeln wird. Seit der Jahrtausen­dwende gilt Afrika nicht mehr nur als Krisenherd und hilfsbedür­ftiges Armenhaus, sondern als Kontinent mit viel Potenzial und einer langsam wachsenden Mittelschi­cht, die hungrig ist nach Konsumgüte­rn.

Was fehlt, ist Arbeit für diese junge Generation. In Äthiopien sind 60 Prozent der Jugendlich­en arbeitslos, mehr als 20 Millionen zusätzlich­e Jobs braucht Afrika jährlich. Sonst wird die hohe Jugendarbe­itslosigke­it auch für Europa zum Problem, weil noch mehr Menschen in Schlepperb­ooten übers Mittelmeer kommen. „Wir müssen die Fluchtursa­chen vor Ort bekämpfen“, fordert Bundesentw­icklungsmi­nister Müller (CSU) daher immer wieder. Und meint: mehr Unterstütz­ung und Investitio­nshilfen für Staaten, die auch selbst etwas tun. Die Fortschrit­te machen in Sachen Korruption­sbekämpfun­g, Rechtssich­erheit und Menschenre­chte. Und die zu Reformen bereit sind.

Die Bundesregi­erung nimmt dazu in diesem Jahr 300 Millionen Euro in die Hand, um Berufsbild­ung und Beschäftig­ungsprogra­mme zu finanziere­n. Unter dem Motto „Partnersch­aft mit Afrika“nutzt Kanzlerin Angela Merkel die G20-Präsidents­chaft, um den Kontinent beim Treffen der Staats- und Regierungs­chefs am Freitag und Samstag in Hamburg in den Fokus zu rücken.

Äthiopien hat viel erreicht. Fast überall im Land haben die Kinder Zugang zu Grundschul­en. Sogar in kleinen Städten wie Mekane Selam mit etwa 12000 Einwohnern wird eine Uni gebaut. Was fehlt, ist qualifizie­rtes Lehrperson­al, der Staat kommt mit der Ausbildung nicht hinterher. Und eben Jobs. Im vergangene­n Jahr kam es zu massiven Unruhen, weil Uni-Absolvente­n keine Arbeit fanden. Um die Aufstände in den Griff zu bekommen, hat der äthiopisch­e Staat umgerechne­t rund 370000 Euro für ein Programm versproche­n, das Arbeitsplä­tze schaffen soll.

Denn gerade die gut ausgebilde­ten jungen Leute sind es, die andernfall­s eine Zukunft im Ausland suchen. Nach offizielle­n Schätzunge­n haben in den vergangene­n Jahren jeweils 100 000 Äthiopier ihre Heimat verlassen. Heute sind es etwa 10000 bis 20000 im Jahr. Die wenigsten allerdings wollen nach Europa. „Sie wissen, dass die Fahrt übers Mittelmeer gefährlich ist“, sagt Muluneh Tolesa von „Menschen für Menschen“, der von Karlheinz Böhm gegründete­n Äthiopienh­ilfe. Lebensgefä­hrlich und teuer. Etwa 6000 Euro verlange ein Schlepper für die Reise. Erst vor kurzem habe der IS in Libyen 35 Äthiopier getötet, sagt Tolesa.

Außerdem wissen seine Landsleute, dass sie in Europa keine Chance auf Asyl haben, sagt Tolesa. Dass sie dort keiner haben wolle. „Es gehen nur noch die, die bei uns überhaupt keine Perspektiv­e sehen und die den Tod im Mittelmeer in Kauf nehmen, um in Europa zu leben.“

Die meisten Äthiopier zieht es in die arabischen Länder, wo sie als Hausangest­ellte, Fahrer oder Bauarbeite­r schuften. „Früher konnte man sicher sein, wenn jemand wegging, dass er ein gutes Leben hat“, sagt Muluneh Tolesa. Und ein gutes Einkommen, von dem er einen Teil nach Hause schicken kann. Entlang der Straße nach Mekane Selam sieht man, was aus dem Geld wird: Hier entstehen Neubaugebi­ete mit einfachen Häusern aus Holz oder Lehm, die sich Rückkehrer leisten können.

Inzwischen aber sei die Arbeit in den arabischen Ländern unsicher geworden. Geschichte­n von misshandel­ten Hausmädche­n oder Bauarbeite­rn, die kein Geld für ihre Arbeit bekommen, kursieren. Vor zwei Jahren, sagt Muluneh Tolesa, seien über Nacht fast 200000 Afrikaner aus den Arabischen Emiraten ausgewiese­n worden. Darum hoffen viele junge Leute auf internatio­nale Firmen aus Europa, Amerika oder China, die in Äthiopien Werke bauGerd en und dort Kleidung produziere­n, Schuhe oder Plastikwar­en. Im Berufsbild­ungszentru­m von „Menschen für Menschen“werden 800 Jugendlich­e dafür ausgebilde­t.

Tsion Solomon, 19, schraubt an dem ausrangier­ten Motor eines Toyotas, erzählt, wie ihre Eltern sich gefreut haben, dass sie sich für Maschinenb­au entschiede­n hat. Obwohl sie ein Mädchen ist, obwohl ihre Familie 20 Kilometer entfernt lebt. „Ich werde später eine Autowerkst­att eröffnen“, sagt sie. Weil es mehr Autos gebe in ihrem Land, seien auch mehr Werkstätte­n nötig.

Im Schatten ihres Steinhause­s mit den zwei Zimmern, das die Familie neben der Strohhütte gebaut hat, erzählen Guday Zewde, ihre Tochter Silma Yegoraw und die Enkelin Sebil Tadesse von ihren Wünschen, ihren Träumen – und von der Realität. Drei Generation­en, drei Geschichte­n. Vor sechs Jahren noch, sagt Silma Yegoraw, lebte sie mit ihrem Mann, der Mutter und den vier Kindern in der Hütte. Zusammen mit den Hühnern, dem Esel und der Kuh. Bis ein Entwicklun­gshelfer in ihr Dorf Mendewu kam, das keine halbe Stunde von der Provinzsta­dt Mekane Selam entfernt liegt.

Mendewu wird Teil des Projektgeb­iets der Stiftung „Menschen für Menschen“. Die Sozialarbe­iter bringen den Bauernfami­lien bei, dass Tiere nicht ins Haus gehören, sondern in einen eigenen Verschlag. Dass der Hof gefegt und von den Hinterlass­enschaften der Hühner und der Kuh gesäubert werden muss, um die Gesundheit­srisiken zu mindern. Dass der rauchende Herd besser außerhalb der Hütte steht, damit die Kinder weniger husten. Und dass mit anderen Anbaumetho­den, besserem Saatgut und dem richtigen Dünger das Feld genügend Ertrag bringt, um die Familie satt zu bekommen und einen Teil der Ernte sogar noch verkaufen zu können.

„Wir haben alles gemacht“, sagt Silma Yegoraw, die wie ihre Mutter beschnitte­n und zwangsverh­eiratet worden ist. Immerhin durfte sie neun Jahre zur Schule gehen. Silma Yegoraw hat vier Kinder bekommen, mehr sollen es auf keinen Fall werden, sagt die 40-Jährige. „Ich muss ihnen doch eine gute Ausbildung ermögliche­n. Und wenn es mehr sind, geht das nicht.“Was sie in Sachen Familienpl­anung unternimmt? „Verhüten. Mit der Spirale. Die vertrage ich am besten.“Auch über dieses Thema haben die Sozialarbe­iter die Frauen aufgeklärt.

Im Rahmen des Dorfentwic­klungsproj­ektes hat Silma Yegoraw eine Ausbildung zur Näherin gemacht. Stolz zeigt sie ihre SingerNähm­aschine,

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Foto: Andrea Kümpfbeck

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