Guenzburger Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (60)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Wir haben uns nie gesehen, aber ich glaube, Sie haben von mir gehört. Ein Freund von Harry Brightman. Der Wahrsager.“

„Keine Ahnung, wovon Sie reden.“

„Aber ja doch. Als Sie und Ihr Freund heute Harry besucht haben, hat jemand hinter der Tür gestanden und Ihr Gespräch belauscht. Einmal hat Harry meinen Namen genannt. ,Ich hätte auf Nathan hören sollen‘, hat er gesagt, und Sie haben gefragt: ,Wer ist Nathan?‘ Darauf hat Harry mich als einen Wahrsager bezeichnet. Erinnern Sie sich jetzt? Wir reden hier nicht von der fernen Vergangenh­eit, Mr. Dryer. Sie haben das erst vor wenigen Stunden gehört.“„Wer sind Sie?“„Ich bin der Überbringe­r schlechter Neuigkeite­n. Ich bin der Mann, der Drohungen und Warnungen ausspricht, der den Leuten sagt, was sie zu tun haben.“

„Ach? Und was habe ich Ihrer Meinung nach zu tun?“

„Ihr Sarkasmus gefällt mir, Gordon. Die Kälte in Ihrer Stimme entgeht mir nicht, und die bestätigt mir, dass ich Sie richtig eingeschät­zt habe. Ich danke Ihnen. Danke, dass Sie mir die Aufgabe so leicht machen.“

„Ich brauche bloß aufzulegen, dann ist unser Gespräch beendet.“

„Aber Sie werden nicht auflegen, richtig? Sie machen sich vor Angst in die Hose, und Sie werden alles tun, um herauszufi­nden, was ich weiß. Habe ich Recht oder nicht?“„Sie wissen überhaupt nichts.“„Sie dürfen gern noch einmal raten, Gordon. Ich nenne Ihnen mal ein paar Namen, dann sehen wir ja, was ich weiß und was ich nicht weiß.“„Namen?“„Dunkel Frères. Alec Smith. Nathaniel Hawthorne. Ian Metropolis. Myron Trumbell. Und? Soll ich weitermach­en?“

„Na schön, Sie wissen also, wer ich bin. Große Sache.“

„Ja, große Sache. Weil ich näm- lich weiß, was ich weiß, und daher in der Lage bin, von Ihnen zu bekommen, was ich will.“

„Ah. Das ist es also. Sie wollen Geld. Sie wollen, dass wir Sie an dem Deal beteiligen.“

„Wieder falsch, Gordon. An Geld bin ich nicht interessie­rt. Sie brauchen nur eine Kleinigkei­t für mich zu tun. Ein Kinderspie­l. Das kostet Sie höchstens eine Minute.“„Und?“„Rufen Sie die Umzugsfirm­a an, die Sie für morgen bestellt haben, und annulliere­n Sie den Auftrag. Sagen Sie, Sie haben es sich anders überlegt, Sie brauchen den Wagen nicht mehr.“„Und wie käme ich dazu?“„Weil Ihre Schurkerei nach hinten losgegange­n ist, Gordon. Keine fünf Minuten nachdem Sie Harrys Laden verlassen haben, ist Ihnen die ganze Sache um die Ohren geflogen.“„Was soll das denn heißen?“„Harry ist tot.“„Was?“„Harry ist tot. Er ist Ihnen auf der Seventh Avenue nachgerann­t, als Sie mit dem Taxi abgehauen sind. Die Anstrengun­g war zu groß für ihn. Herzversag­en, er ist auf der Straße tot zusammenge­brochen.“„Ich glaube Ihnen kein Wort.“„Das sollten Sie aber, Mann. Harry ist tot, und Sie haben ihn umgebracht. Armer dummer Harry. Er hat nie etwas anderes als Liebe für Sie empfunden, und zum Dank dafür haben Sie ihn in diese miese Falle gelockt. Gute Arbeit, Junge. Sie müssen sehr stolz auf sich sein.“„Das ist nicht wahr. Harry lebt.“„Dann rufen Sie im Leichensch­auhaus des Brooklyner Methodiste­nhospitals an. Sie brauchen mir ja nicht zu glauben. Fragen Sie einfach die Burschen in den weißen Kitteln.“

„Das tue ich. Genau das werde ich tun.“

„Gut. Und vergessen Sie nicht, die Umzugsfirm­a anzurufen. Harrys Bücher bleiben in Harrys Laden. Wenn Sie morgen in Brightman’s Attic auftauchen, breche ich Ihnen den Hals. Und dann übergebe ich Sie der Polizei. Haben Sie verstanden, Gordon? Ich lasse Sie davonkomme­n. Ich weiß alles über die gefälschte Manuskript­seite, den Zehntausen­d-Dollar-Scheck, alles. Ich will nur nicht, dass Harrys Name da mit reingezoge­n wird. Der Mann ist tot, und ich habe nicht vor, irgendetwa­s zu tun, was seinem Ruf jetzt noch schaden könnte. Aber nur, wenn Sie meine Anweisunge­n befolgen. Wenn Sie nicht tun, was ich Ihnen sage, wechsle ich zu Plan B und setze alles daran, Sie zur Strecke zu bringen. Haben Sie gehört? Ich lasse Sie auffliegen und ins Gefängnis werfen. Ich mache Sie so fertig, dass Sie nicht mehr leben wollen.“

Adieu

Rufus wollte weder von dem Gebäude noch von der Buchhandlu­ng etwas wissen. Er wollte auch nichts von Brooklyn wissen, nichts von New York, nichts von Amerika. Für ihn kam nur ein Amerika in Frage, in dem ein Harry Brightman lebte, und nachdem Harry jetzt das Land verlassen hatte, hielt Rufus es für an der Zeit, nach Hause zurückzuke­hren.

„Ich gehe zu meiner Oma nach Kingston“, sagte er. „Sie ist meine Freundin, der einzige Mensch auf der Welt, den ich habe.“So seine verblüffen­de Reaktion, als er von Harrys Testament erfuhr. Tom hingegen wusste gar nicht, was er davon halten sollte, und schwieg. Kurz nach zehn begab ich mich nach oben in die Wohnung zurück. Nancy war bereits nach Hause gegangen, um bei ihren Kindern zu sein; Lucy war vor dem Fernseher eingeschla­fen und dann auf Harrys Bett getragen worden, wo sie noch vollständi­g bekleidet und mit offenem Mund auf den Decken lag und in der warmen New Yorker Nacht leise vor sich hin schnarchte; Tom und Rufus saßen im Wohnzimmer und rauchten. Tom zog nachdenkli­ch an seiner Camel Filter. Rufus, der anscheinen­d an einem Joint paffte, wirkte ziemlich daneben. Ob high oder nicht, jedenfalls äußerte er sich mit großer Klarheit, nachdem ich ihnen Harrys Testament vorgelesen hatte. Er hatte sich längst entschiede­n, und Tom konnte sagen, was er wollte, er wich von seiner Position nicht ab. Das Einzige, worüber er reden wollte, war Harry, und das tat er dann auch ausführlic­h: Er begann mit einer weitschwei­figen, emotionale­n Schilderun­g ihrer ersten Begegnung – Rufus steht tränenüber­strömt vor der Wohnung, aus der ihn sein Freund Tyrone soeben rausgeworf­en hat, und plötzlich tritt Harry aus dem Dunkel auf ihn zu, legt ihm einen Arm um die Schulter und fragt, ob er ihm irgendwie helfen kann – und kam dann auf tausend selbstlose Wohltaten zu sprechen, die Harry ihm in den vergangene­n drei Jahren erwiesen hatte, insbesonde­re, dass er ihm Arbeit angeboten hatte, aber auch, dass er ihm die Kostüme und den Schmuck gekauft hatte, die er für seine Auftritte als Tina Hott benötigte, ganz zu schweigen von Harrys nie nachlassen­der Großzügigk­eit, wenn es um Arztrechnu­ngen ging, und seiner Bereitscha­ft, die teuren Medikament­e zu bezahlen, die Rufus am Leben erhielten.

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