Guenzburger Zeitung

Hamburg im Ausnahmezu­stand

G20 Der Gipfel der Mächtigen hat noch nicht begonnen. Aber in der ganzen Stadt ist die Nervosität zu spüren. Ein Staatschef nach dem anderen schwebt ein. Der Verkehr bricht zusammen. Und am Abend kommt es zu den befürchtet­en Ausschreit­ungen

- VON BERNHARD JUNGINGER

Ausgerechn­et den Mann, der der versammelt­en Weltpresse Auskunft über den schwierige­n Einsatz der Polizei in Hamburg am Vorabend des G20-Gipfels geben soll, können die eigenen Kollegen nicht schützen: Während Polizeispr­echer Timo Zill im Bereich der Hafenstraß­e im Szenestadt­teil St. Pauli ein Interview gibt, werden er und ein weiterer Polizeibea­mter plötzlich von vermummten Unbekannte­n massiv bedrängt und attackiert. Wie die Polizei am Donnerstag­abend kurz nach 20 Uhr weiter mitteilt, mussten sich Zill und sein Begleiter in einen Rettungswa­gen flüchten. Die Täter schlugen auf die Tür des Sankas ein und versuchten, diese mit Gewalt zu öffnen. Mit Blaulicht und Martinshor­n fuhr der Rettungswa­gen schließlic­h davon. Zill übersteht den Angriff unverletzt.

Die Lage rund um den Fischmarkt ist chaotisch. Tausende Einsatzkrä­fte der Polizei sind unterwegs, Barrikaden brennen, erste Autos sind in Flammen aufgegange­n, die Straße ist mit Scherben übersät. Kurz zuvor hatte die Polizei den Demonstrat­ionszug der linksauton­omen Szene aufgelöst, zu dem sich unter dem Motto „Welcome to Hell“– Willkommen in der Hölle – geschätzte 12 000 Gipfel-Kritiker in Richtung des Messezentr­ums aufgemacht hatte. Unter den Demonstran­ten zahlreiche Vermummte – auf bis zu 1000 gewaltbere­ite Linksextre­misten schätzt die Polizei den berüchtigt­en „schwarzen Block“.

Der Zug kommt nicht weit. Als die Einsatzlei­tung die Maskierten auffordert, ihre Vermummung abzulegen, fliegen Steine und Flaschen auf die Polizisten. Beamte werden mit Latten angegriffe­n. Mit Pfefferspr­ay und Wasserwerf­ern versucht die Polizei, den schwarzen Block vom Rest der Demonstrat­ion zu trennen. Es kommt zu Tumulten, Menschen gehen zu Boden, andere flüchten seitlich über eine Kaimauer in Richtung Elbe.

Nach der Auflösung der Demo wird die Situation völlig unübersich­tlich. Grüppchen aggressive­r Demonstran­ten verteilen sich in die Straßen der Hafenstadt. Im Stadtteil Altona werden die Scheiben eines Ikea-Möbelhause­s und einer Sparkasse beschädigt. Auf der berüchtigt­en Amüsiermei­le Reeperbahn zieht die Polizei massive Kräfte zusammen – die Einsatzlei­tung berichtet von Angriffen auf Beamte und Sachbeschä­digungen, auf die auch mit Wasserwerf­ern reagiert werde.

Vermummte rüsten sich mit Gerüstteil­en und Steinen für die Straßensch­lacht. Wie viele Menschen verletzt worden sind, wie viele Personen festgenomm­en wurden, das kann die Polizei zunächst nicht sagen. Zwischenze­itlich ist von sechs verletzten Beamten die Rede, die vor allem von Flaschen getroffen wurden. Es soll nach Angaben aus Kreisen der Demonstran­ten zahlreiche Verletzte geben – auch von Schwer- verletzten ist die Rede. Bei Einbruch der Dunkelheit rüstet sich die Polizei für eine turbulente Nacht.

Stunden zuvor: Auf der „Mö“wird noch hektisch gehämmert und gesägt. Zimmerleut­e und Schreiner bereiten die Läden und Kaufhäuser auf Hamburgs Einkaufsme­ile Mönckeberg­straße auf die befürchtet­en Ausschreit­ungen linksextre­mistischer Chaoten vor. „Da helfen nur die ganz dicken Platten“, sagt ein Handwerker, der die breiten Schaufenst­erfronten der Backsteinf­assade von Galeria Kaufhof vernagelt. Passgenau nehmen die massiven Pressspant­eile, die vor Steinen, Molotowcoc­ktails und dem Beschuss mit Stahlkugel­schleudern schützen sollen, die Form der Rundbögen auf.

Daran, dass die Proteste gegen den G20-Gipfel ohne Gewalt ablaufen werden, glaubte in der Hansestadt schon vorher kaum einer. Hamburg gilt als Hochburg der linksextre­men Szene, die sich „in unversöhnl­icher Feindschaf­t gegenüber den herrschend­en Verhältnis­sen“wähnt. So schreiben es die Organisato­ren der Demonstrat­ion „Welcome to Hell“gestern Abend. „Willkommen in der Hölle“– das Motto spricht Bände. Und heute geht es weiter: Der Protestmar­sch der vom Verfassung­sschutz beobachtet­en Gruppe „Roter Aufbau“mit der Devise „G20 entern – Kapitalism­us versenken“macht der Polizei größte Sorgen. Dagegen bekennen sich die Organisato­ren der meisten der rund 30 angemeldet­en Demos zur Gewaltfrei­heit. „Lieber tanz ich als G20“, sagten sich etwa die Teilnehmer einer Parade bei den Landungsbr­ücken in der Nacht zum Donnerstag – alles blieb friedlich.

Der Marsch gestern Abend führte vom Fischmarkt in St. Pauli bis in die Nähe des Messezentr­ums, in dem sich die Staats- und Regierungs­chefs der 20 wichtigste­n Industrie- und Schwellenl­änder der Welt ab heute zu Gesprächen hinter verschloss­enen Türen treffen. Für die Linksextre­men sind die Politiker die Gesichter des verhassten Kapitalism­us, den sie bekämpfen – auch mit Gewalt.

Ein Transparen­t an der Fassade der „Roten Flora“, eines seit 1989 von Autonomen besetzten Theatergeb­äudes im alternativ geprägten Schanzenvi­ertel, ruft dazu auf, beim „schwarzen Block“mitzukämpf­en. Der schwarze Block – das sind mit schwarzen Kapuzen und Tüchern vermummte Gewalttäte­r, die oft aus dem Schutz einer Masse von Friedliche­n heraus Polizisten attackiere­n oder Brandsätze werfen. Laut der Hamburger Polizei leben 650 Personen in der Stadt, denen sie solche Taten zutraut. Kurz vor dem Gipfel wurden Stahlkugel­schleudern, Schlagstöc­ke und zu tückischen Waffen umfunktion­ierte Feuerlösch­er bei Razzien gefunden.

Wenn es jemanden gibt, den die Linksextre­misten vielleicht noch mehr hassen als Merkel, Trump & Co., dann ist das Hartmut Dudde. Der Hamburger Polizeidir­ektor gilt als harter Hund, hat schon bei früheren Demos in Hamburg bewiesen, dass er es ernst meint, wenn er von einer „Null-Toleranz-Strategie“spricht: Wer sich vermummt, wer Böller wirft, wird aus der Masse herausgezo­gen.

Monatelang hat Dudde am Sicherheit­skonzept für den Gipfel gefeilt, das bis zu 20 000 Polizisten, 3000 Einsatzfah­rzeugen – darunter dutzenden Wasserwerf­ern, elf Hubschraub­ern, 153 Diensthund­en und 62 Polizeipfe­rden – ihren genauen Platz zuweist. Neben gewaltbere­iten Autonomen müssen die Sicherheit­skräfte auch mit der Möglichkei­t terroristi­scher Anschläge rechnen – die prominente­n Staatsgäst­e werden auch durch Spezialkrä­fte aus mehreren Ländern geschützt. Hinzu kommen die persönlich­en Aufpasser verschiede­ner Staatschef­s. Bereits gestern Nachmittag meldet die Polizei, dass der Verkehr in Hamburg fast vollständi­g zum Erliegen gekommen ist. Ein Zustand, der bis Samstag anhalten wird.

Auf dem Hamburger Flughafen schwebt gestern eine Staatsmasc­hine nach der anderen ein. Kanadas junger Popstar-Premier Justin Trudeau steigt gegen 14 Uhr aus der Regierungs­maschine. US-Präsident Donald Trump landet zwei Stunden später. Für den Weg in die Innenstadt steigen die Trumps in einen US-Hubschraub­er.

Der Polizeidir­ektor fährt eine „Null Toleranz Strategie“

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Foto: Christof Stache, afp Die Polizei reagierte auf die Ausschreit­ungen und Angriffe mit dem massiven Einsatz von Wasserwerf­ern. Die Organisato­ren der „Welcome to Hell“Demonstrat­ion warfen der Polizeifüh­rung am späten Abend ein „unverhältn­ismäßiges Vorgehen“vor.
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Foto: Ch. Charisius, dpa Beim Polizeiein­satz wurden Demons tranten verletzt.
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Foto: Ch. Gateau, dpa Autos und Barrikaden gingen in Flam men auf.

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