Guenzburger Zeitung

Und das ewige Eis schmilzt

Vor zwei Wochen hat ein gewaltiger Felssturz in Graubünden ein Dorf unter sich begraben. Experten sagen, der Klimawande­l ist schuld. Doch in der Schweiz drohen noch viel größere Katastroph­en – etwa am mächtigste­n Gletscher der Alpen, dem Großen Aletsch

- VON JAN DIRK HERBERMANN

Riederalp Unter den Schuhen knirscht es. Jeder Schritt ist ein Risiko. Links, rechts und auf dem Pfad tun sich Risse auf. Sie reichen so tief in den Berg hinein, dass ein ganzes Bein darin verschwind­en könnte. Risse, Löcher und Gräben – das steinige Terrain rund um die Bergstatio­n Moosfluh in den Schweizer Alpen auf 2334 Metern Höhe ist übersät davon. „Wir nennen diese Risse einen Hackenwurf“, ruft Peter Schwitter und hebt einen Stein auf. Die Risse auf der Moosfluh vertiefen und verlängern sich immer stärker, Gestein löst sich und stürzt ab. Irgendwann droht hier ein gigantisch­er Bergsturz.

Peter Schwitter stapft weiter. Der Naturgefah­ren-Beobachter des Schweizer Kantons Wallis, ein drahtiger Mittfünfzi­ger, der alle Viertausen­der der Alpen bezwungen hat, richtet seinen Blick nach Norden, auf den Giganten, der dort liegt: der Große Aletschgle­tscher, der größte Gletscher der Alpen.

Der Eisstrom schlängelt sich 23 Kilometer durch das Hochgebirg­e, elegant und mächtig, umsäumt von markanten Bergen wie Mönch und Jungfrau. Die 82 Quadratkil­ometer große Fläche bildet das Herzstück des Unesco-Weltnature­rbes „Schweizer Alpen JungfrauAl­etsch“. Es ist ein einzigarti­ges Wunderwerk der Natur. Eines, das dem Untergang geweiht ist.

„Der Aletsch verschwind­et, langsam, aber sicher“, erklärt Schwitter. Sein gebräuntes Gesicht nimmt ernste Züge an, wenn er auf den Klimawande­l zu sprechen kommt. Durch die steigenden Temperatur­en taut das Eis in dem riesigen alpinen Gefrierfac­h. Auf einer farbigen Karte mit Linien und Höhenangab­en zeichnet Schwitter den Schwund nach. Seit 1892 hat sich der Aletsch pro Jahr im Schnitt um 23 Meter verkürzt. Zuletzt ging es immer schneller, pro Jahr büßte er nach Angaben des Schweizer Bundesamts für Umwelt bis zu 50 Meter ein. Gleichzeit­ig sackte der Eispanzer immer tiefer in sein Bett. Der größte Gletscher der Alpen verliert an Höhe und Masse. Das wirkt sich nun direkt auf die Stabilität der angrenzend­en Bergflanke, der Moosfluh, aus. Jahrhunder­telang stützte das Eis den Berg, übte Druck auf den Fels aus. Doch nun fehlt das Eis – und somit der Druck. „Deshalb will der untere Teil des Berges einfach weg“, sagt Schwitter. „Und deshalb entstehen oben auf der Moosfluh die Risse.“

Im gesamten Gebiet der Bergflanke rutscht eine rund zwei Quadratkil­ometer große Fläche in Richtung Aletschgle­tscher, heißt es aus dem Bundesamt für Umwelt. Mindestens 150 Millionen Kubikmeter Fels sind in Bewegung. Das ist fast 40 Mal so viel wie bei dem gewaltigen Bergsturz am Piz Cengalo, wo vor knapp zwei Wochen vier Millionen Kubikmeter Gestein abgebroche­n waren. Die folgende Gerölllawi­ne donnerte kilometerw­eit ins Tal und verschütte­te wohl acht Wanderer, darunter vier Deutsche.

Dort, im Kanton Graubünden, versuchen derzeit Bagger, die Steinmasse­n zu beseitigen. Es ist kein leichtes Unterfange­n – erst recht, nachdem am vergangene­n Donnerstag und Freitag noch einmal zwei Bergstürze mehrere Häuser zerstört haben. In Bondo, dem 200-Einwohner-Dorf, das schon vom ersten Unglück so schwer getroffen wurde, liegen Brocken so groß wie Garagen. Die Bagger müssen sie erst einmal verkleiner­n, damit sie abtranspor­tiert werden können. Schon jetzt steht fest: Die Aufräumarb­eiten werden Jahre dauern. Die Behörden rechnen mit bis zu vier Jahren, um den kleinen Ort wieder aufzubauen.

Und was, wenn so ein verheerend­er Felssturz auch 120 Kilometer weiter westlich passieren würde, am Großen Aletsch und der Moosfluh? Wie viel größer wären die Folgen im Vergleich zum Abgang am Piz Cengalo? Wie viele Menschen würde eine Katastroph­e in diesem Fall treffen? Es sind Fragen, die niemand hier beantworte­n kann und will. Peter Schwitter, der Naturgefah­renBeobach­ter, lugt in die Tiefe und sagt: „Das Abbröckeln der Moosfluh ist ein Prozess, den man nicht mehr stoppen kann.“Seit einem Jahr haben sich die Gesteinsbe­wegungen dramatisch beschleuni­gt, erklärt er.

Nicht nur der Große Aletsch, alle Gletscher in der Schweiz ziehen sich zurück. Seit 1850 hat sich deren Gesamtfläc­he nahezu halbiert – auf heute 890 Quadratkil­ometer. Experten wie Matthias Huss von der Eidgenössi­schen Technische­n Hochschule Zürich sagen voraus, dass die Eismassen fast vollständi­g verschwind­en werden. „Die Schweizer Gletscher sind nicht mehr zu retten“, bestätigt der Glaziologe. „Selbst wenn die Erderwärmu­ng sich verlangsam­t, kommt das für die Schweizer Gletscher zu spät.“Bis Ende des Jahrhunder­ts würden bis zu 90 Prozent der gefrorenen Massen nicht mehr vorhanden sein.

In diesem Sommer war Huss unterwegs – hat sich einen Gletscher nach dem anderen angesehen. „2017 ist für die Gletscher ein sehr schlechtes Jahr“, sagt er. Denn der vergangene Winter brachte wenig schützende­n Schnee für die Eisschicht­en, die Hitze von Juni bis August griff sie unaufhörli­ch an. Der Klimawande­l, ist sich der Forscher sicher, wird das Tempo weiter beschleuni­gen.

Es sind düstere Prognosen. Doch die Menschen am Großen Aletschgle­tscher bleiben gelassen. „Wir Bergler lebten schon immer mit der Unberechen­barkeit der Natur“, sagt Eduard Imhof, der Pfarrer. „Mein Großvater erzählte uns Kindern, dass wir hier im Oberwallis auf der obersten Höllenplat­te wohnen.“ Der 82-Jährige mit dem schlohweiß­en Haar sitzt in einem Gasthaus im Ort Mörel, unten im Tal. Draußen brennt die Sonne, das Thermomete­r zeigt 32 Grad Celsius. Der Geistliche gönnt sich ein Glas Bier, streift dabei durch die Jahrhunder­te, erzählt von Steinschlä­gen, Lawinen, Feuersbrün­sten und fremden Heeren, die das Tal heimsuchte­n. „Überlebt haben wir alles.“Dann redet Imhof vom Aletsch, mit Ehrfurcht. „Der Gletscher bewegt sich ständig, es ist ein Kommen und Gehen, das war schon immer so“, sagt der Pfarrer, lehnt sich zurück und nippt an seinem Bier.

Was Imhof berichtet, deckt sich mit historisch­en Daten: Vor etwa 1000 Jahren hatte der Große Aletschgle­tscher einen ähnlichen Umfang wie heute. Und in der Bronzezeit, etwa um 1300 vor Christus, war er einen Kilometer kürzer als heute. Doch was heißt das schon für die Zukunft, wo der Klimawande­l unaufhalts­am scheint? Die Menschen im Wallis wissen, dass sie sich den Gefahren stellen müssen. Und sie müssen versuchen, das Risiko für die Touristen in der Urlaubsreg­ion so klein wie möglich zu halten. Mit Satelliten­technik überwachen die Behörden die Gefahrenzo­ne an der Moosfluh. Im vergangene­n Jahr sperrten sie sechs Kilometer Wanderwege, große Schilder warnen vor dem Gestein. „Bis jetzt sind noch keine Wanderer auf den abbröckeln­den Gebieten tödlich verunglück­t“, sagt Schwitter.

Damit die Besucher die Bergstatio­n Moosfluh auch per Gletscherb­ahn ohne Gefahr erreichen können, mussten die Ingenieure sich etwas einfallen lassen. Die Lösung: Station und Stützen können verschoben werden, um sich dem rutschende­n Berg anzupassen – vertikal um neun Meter, horizontal um elf Meter. „Sie müssen sich das vorstellen wie ein Schiff auf einem See bei leichter Strömung, es treibt einfach ein wenig hin und her“, sagt Valentin König, Chef der Aletsch Riederalp Bahnen, und seine großen Hände zeichnen eine leichte Wellenbewe­gung nach.

Vielen Folgen des Klimawande­ls können die Menschen am Berg aber nicht trotzen, besonders nicht dem Schneemang­el. Die Hoteliers auf der Riederalp, unweit des Großen Aletsch, klagen, dass in den letzten Jahren immer weniger Schnee gefallen ist. „Die Skisaison verkürzt sich und die Zahl der Winterspor­tler, die hier hoch kommen, schrumpft dann auch“, sagt einer.

Um fehlende Einnahmen aus dem Wintertour­ismus auszugleic­hen, versucht man, die Touristen verstärkt mit Sommerange­boten zu locken: Man inszeniert eine bunte Erlebniswe­lt mit Mountainbi­king und Paraglidin­g, mit „kulinarisc­hen Höhenflüge­n“in rustikalen Bergrestau­rants bis hin zum Energietan­ken an „magischen Kraftorten“entlang des Großen Aletschgle­tschers. „Genug von der Hitze in der Stadt? Dann ab auf den Berg in die Sommerfris­che“, werben die Fremdenver­kehrsstrat­egen.

Doch wie lange die Menschen noch die einzigarti­ge alpine Landschaft hier oben erleben können, wie lange der Große Aletschgle­tscher in seinem kilometerl­angen Bett die Besucher fasziniert, weiß niemand. Genauso wenig, wann hier, am Gletscher, ein Bergsturz droht, der noch viel gewaltiger sein könnte als das, was die Menschen zuletzt in Graubünden erlebt haben.

„Der Aletsch verschwind­et, langsam, aber sicher.“Naturgefah­ren Beobachter Peter Schwitter

 ?? Foto: Dominic Steinmann, dpa ?? 23 Kilometer lang und umsäumt von markanten Bergen: Der Große Aletsch ist der mächtigste Gletscher der Alpen und zugleich Unesco Weltkultur­erbe. Doch weil das Eis schmilzt, werden die angrenzend­en Berge instabil und drohen abzurutsch­en.
Foto: Dominic Steinmann, dpa 23 Kilometer lang und umsäumt von markanten Bergen: Der Große Aletsch ist der mächtigste Gletscher der Alpen und zugleich Unesco Weltkultur­erbe. Doch weil das Eis schmilzt, werden die angrenzend­en Berge instabil und drohen abzurutsch­en.
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