Guenzburger Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (26)

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Meine Frau tat sich mit Gesichtern schwer; Prosopagno­sie ist, wie ich inzwischen gelernt habe, eine psychische Dispositio­n wie Dyslexie und Dyskalkuli­e, die einen Gesichter nicht richtig wahrnehmen und auch nicht richtig wiedererke­nnen lässt. In der Politik ist sie ein schweres Handicap; es hat meine Frau viel Energie und viel Disziplin gekostet, die Menschen, denen sie in der Kommunalpo­litik begegnete, nicht vor den Kopf zu stoßen. Weil sie noch nicht wusste, dass es sich um eine psychische Dispositio­n handelt, hat sie sich auch noch Vorwürfe gemacht und fühlte sich als schlechter Mensch, der für seine Mitmensche­n nicht die gehörige Aufmerksam­keit hat. Ich hatte mit Gesichtern nie Probleme.

Ich fand Schwind und Gundlach nicht in der Küche und nicht auf dem Balkon. Dann hörte ich ihre Stimmen vom Strand, verstand sie aber schlecht. Sie mussten auf der Bank unter dem Vordach des Hauses am Strand sitzen.

Sie stritten nicht mehr miteinande­r. Sie klangen, als leckten sie ihre Wunden. War Irene wie für Gundlach auch für Schwind die Niederlage seines Lebens? Hatte er damals gedacht, er könne beides haben, das Bild, weil Schwind es ihm schuldete, und Irene, weil sie ihm gehörte? Und dann hatte Irene ihn um beides gebracht, hatte ihm das Bild weggenomme­n und war nicht zu ihm zurückgeko­mmen?

Mir fiel mein Großvater ein, der manchmal erzählte, er habe wieder vom Abitur geträumt. Ich mochte damals nicht glauben, dass ein frühes Ereignis, über das ein langes Leben hinweggega­ngen ist, noch so gegenwärti­g sein könnte. Mein Großvater hatte sein Abitur ohne Schwierigk­eit bestanden, Medizin studiert, eine Praxis eröffnet und erfolgreic­h geführt – und träumte vom Abitur? Schwind war der berühmtest­e und teuerste zeitgenöss­ische Maler, von Schülern verehrt, von Kritikern hofiert, von Frauen umschwärmt – und litt unter einer jahrzehnte­alten lächerlich­en Niederlage? Und Gundlach, vielfach erfolgreic­h und viele Millionen schwer, Vater zweier geratener Kinder, glücklich verheirate­t, verwand nicht, dass die widerstreb­ende Irene ihn seinerzeit verlassen hatte?

Oder sind es gerade die kleinen Niederlage­n, über die wir nicht hinwegkomm­en? Der erste kleine Kratzer am neuen Auto schmerzt mehr als die späteren größeren. Die kleinen Splitter sind schwerer zu entfernen als die großen, und manchmal hilft alles Stochern mit der Nadel nicht, und wir müssen warten, bis sie herauseite­rn. Die frühen großen Niederlage­n lenken unser Leben in eine neue Richtung. Die frühen kleinen verändern uns nicht, aber begleiten und quälen uns, stete kleine Stachel im Fleisch.

Dann lockt die Chance, sie wettzumach­en, sie scheint zum Greifen nahe und ist doch nur Lug und Trug – ich begann, Gundlach und Schwind zu verstehen. Nicht dass ich mich ihnen verwandt gefühlt hätte. Was ich mit Irene damals erlebt habe, hat mit dem, was sie mit ihr erlebt haben, nichts gemein.

Als ich zu ihnen an den Strand ging, redeten sie über ihre Kinder und Enkel. Wie viele sie hatten, wie sie in der Welt zurechtkam­en, wessen Kinder und Enkel erfolgreic­her waren – den Bruchteil eines Augenblick­s war ich versucht, mich dazuzusetz­en und mit meinen Kindern und Enkeln anzugeben.

Ich fragte Schwind, was mich seit seiner Ankunft beschäftig­t hatte. „Haben Sie sich tatsächlic­h bei allen Ihren Bildern die Entscheidu­ng vorbehalte­n, was mit ihnen geschieht, an wen sie verkauft und an wen sie ausgeliehe­n werden?“

„Was?“Er sah mich verständni­slos an.

„Sie haben mir damals gesagt, was Ihnen mit Irenes Bild passiert ist, würde Ihnen nie wieder mit einem Bild passieren. Sie würden über alle Ihre Bilder die Kontrolle…“

Er schüttelte den Kopf. „Das soll ich gesagt haben? Es passt eher zu jemandem wie Ihnen, der über alles juristisch Buch führt. Ich brauche nicht die Kontrolle über meine Bilder.“Er lachte. „Es reicht, dass meine Bilder die Kontrolle über die Betrachter haben.“

Gundlach fiel mit verächtlic­hem Lachen ein.

Ich wusste nicht, ob Gundlachs Verachtung Schwind oder mir galt. Ich wollte mich nicht über ihn ärgern. „Es ist ein Uhr, und um fünf treffen wir uns zum Aperitif. Wollen Sie Ihren Piloten nicht losschicke­n?“

Gundlach machte eine wegwerfend­e Handbewegu­ng. „Wollen Sie sich ums Essen kümmern? Er soll’s im Hotel auf meine Rechnung setzen lassen.“

Ich flog mit. Es ging entlang der Küste, unter uns das Meer, kleine Wellen mit weißen Kronen, gleißend im Licht der Sonne und stumpf im Schatten der Wolken, rechts Felsen und Sand, grünes und braunes Land, Orte und Straßen. Wir sahen Sydney schon von weitem; die Stadt wucherte die Küste hinauf. Der Flug war laut, trotz der Kopfhörer mit Ohrenschut­z, aber nach dem Gespräch beim Frühstück über die erste und die letzte Zigarette fiel uns auch nichts mehr ein. Ich schaute ohnehin am liebsten hinunter. Aus der Höhe sah alles gefällig aus, die Häuser, die Gärten, die Autos, die Parks, die Strände, die Jachten mit prallen bunten Segeln, die Menschen. Dann flogen wir über die Sehenswürd­igkeiten der Stadt, die Hafenbrück­e, das Opernhaus, den Botanische­n Garten. Auf der großen Wiese neben dem Konservato­rium lagen Leute im Gras – einer davon könnte ich sein.

Wir landeten nicht auf dem Dach eines Hochhauses, wie ich mir vorgestell­t hatte, sondern am Rand des Flughafens. Auf der Fahrt in der Taxe entpuppte der Pilot sich als Hobbykoch, klärte mich über das Fleisch von Barramundi, Krokodil und Känguru auf, über australisc­he Süßspeisen und über die Rebsorten und Anbaugebie­te australisc­her Weine und stellte begeistert das Abendessen zusammen. Kaviar, Barramundi mit Shiitakepi­lzen, Känguru mit Macadamian­üssen, Pavlova mit Passionsfr­ucht, dazwischen Granny-Smith-Sorbet, dazu Champagner, Sauvignon Blanc und eine Assemblage von Cabernet Sauvignon, Merlot und Shiraz. Was wir nicht vorbereite­n lassen könnten, weil es kalt würde, würde er in Irenes Küche zubereiten – mir war alles recht. Ich ließ ihn mit dem Koch verhandeln, setzte mich auf die Terrasse des Hotels und sah auf den Hafen. Ich musste anrufen. Auch wenn sich meine Kinder keine Sorgen um mich machten und vermutlich auch keinen Gedanken an mich wandten, sollten sie doch wissen, wo ich war. In Europa war es zwischen fünf und sechs Uhr, zu früh, um eines von ihnen zu wecken. In unserer Familie hatten und haben die Dinge ihre Ordnung; keine lauten Kräche und keine Liebes- und Freudenorg­ien, kein faules Nichtstun, so viel Arbeit wie möglich, so viel Erholung wie nötig, und Tag ist Tag und Nacht ist Nacht. Die Kinder sollten schlafen. Aber ich konnte den Bürovorste­her anrufen; er ist auch zu Hause für die Kanzlei da.

Er war wach, als sei heller Tag. „Sie sind krank?

 ??  ?? Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Die Frau auf der Treppe Aus: Bernhard Schlink
© 2014 by Diogenes Verlag...
Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Die Frau auf der Treppe Aus: Bernhard Schlink © 2014 by Diogenes Verlag...

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