Rette sich, wer kann
Hurrikan „Irma“hat die USA erreicht. Im Süden Floridas glauben die Menschen, die Welt gehe unter. Oben im Norden des Bundesstaates quält sie vor allem eines: die Ungewissheit. Wie Urlauber und Aussteiger aus unserer Region mit dem Wirbelsturm umgehen
Ein Mann sagt: Das hält mein Wohnmobil nicht aus Eine Frau sagt: Ich habe Todesangst
Washington/Augsburg Als „das Monster“da ist, sitzt Christian Reuter auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums in seinem Wohnmobil und erledigt Bürokram. „Man muss die Zeit ja irgendwie nutzen“, sagt er. Als der Mann zum Telefon greift, um unsere Redaktion anzurufen, liegt die Eilmeldung der Nachrichtenagenturen „Hurrikan ,Irma‘ erreicht Süden Floridas“immerhin schon drei Stunden zurück. Oder wie der Boulevard titelt: „Das Monster ist da“. Und Christian Reuter macht Büroarbeit?
Florida ist lange nicht der größte US-Bundesstaat, aber immer noch zweieinhalb Mal größer als Bayern. Das heißt: Wenn unten im Süden die Welt unterzugehen scheint wie gestern Früh auf der berühmten Inselkette, den Florida Keys, dann ist man oben im Norden noch relativ entspannt. So wie Christian Reuter in Jacksonville, einer 800000-Einwohner-Stadt im Nordosten, unweit der Grenze zu Georgia.
Der 51-Jährige lebt eigentlich viereinhalb Autostunden weiter südlich in Coral Springs bei Fort Lauderdale; er ist vor einem Jahr aus Landsberg ausgewandert und hat im „Sunshine State“einen Klamottenladen übernommen. Als „das Monster“immer näherkam und die meisten der 6,5 Millionen Menschen, die ihre Häuser verlassen sollten, auf ihrer Fluchtroute Richtung Norden schon durch waren, hat sich auch Reuter ins Wohnmobil gesetzt. Dort wartet er jetzt, in Jacksonville eben, „noch ziemlich entspannt“, und weiß doch: „Hier werde ich nicht bleiben können.“
„Irma“rückt näher. In Gefahr ist vor allem die Westküste, dort soll das Auge des Wirbelsturms vorbeiziehen. Aber was weiß man an diesem apokalyptisch anmutenden Sonntag schon darüber, mit welcher Kraft die Ausläufer das Landesinnere oder gar die Ostküste treffen werden? In der Metropole Miami, obwohl ein gutes Stück vom Auge des Sturms entfernt, steht schon das Wasser in den Straßen und steigt weiter; der Wind hat es vom Meer hereingedrückt. Wer weiß schon, ob der Hurrikan nicht plötzlich wieder die Richtung ändert? Er soll an Stärke verlieren, aber trotzdem drohen gewaltige Sturmfluten, die frühere ähnliche Naturkatastrophen erst richtig gefährlich für Leib und Leben der Menschen gemacht haben? „Es heißt, die Winde sollen hier in Jacksonville mehr als 100 km/h stark sein. Das hält mein Wohnmobil nicht aus“, glaubt Reuter. Also wird er noch einige Kilometer weiter gen Norden fahren müssen.
Für Leute wie John Hines ist es dafür jetzt zu spät. Noch ehe „Irmas“Auge am Morgen seine Heimat, die Keys, erreicht, haben Floridas Einwohner mit den ersten Folgen zu kämpfen. Rund fünf Millionen Menschen sind ohne Strom. Bei wetterbedingten Verkehrsunfällen sterben drei Menschen. John Hines hört noch in der Nacht, wie die Türen seines Hauses in Key West knarren und in den Rahmen zu wackeln beginnen. „Hört sich an, als ob jemand an die Haustür klopft“, erzählt er dem Nachrichtensender
CNN. Die Lage in der Gegend sei „beschissen“, sagt er noch. Und dann: „Es wird noch schlimmer.“
John Hines hatte eh nicht vor, das Weite zu suchen. Er gehört zu der Gruppe besonders sturer Bewohner, die sich auch nach den Evakuierungs-Aufforderungen der Behörden für mehr als 6,5 Millionen Menschen – rund 20 Prozent der Einwohner Floridas – geweigert haben, ihre Häuser zu verlassen. Genaue Zahlen gibt es nicht, doch Medienberichte und Mitteilungen der Behörden lassen auf mindestens einige tausend Menschen schließen.
Viele von ihnen haben sich mit Wasser, Lebensmitteln und Benzin für den Generator eingedeckt und ihre Türen und Fenster mit speziellen Wirbelsturm-Verdecken gesichert oder mit Spanplatten vernagelt. Einige Hausbesitzer verfügen über Schutzkeller, andere nur über Optimismus und Galgenhumor. „Ich glaube, ich sollte das ganze Bier im Kühlschrank trinken, bevor der Strom ausfällt“, schreibt einer auf der Internet-Plattform Facebook.
Viele Leute, auch Hines, wollen ihre Häuser nicht möglichen Plünderern überlassen, während sie in einer Notunterkunft sitzen. Andere sorgen sich um ihre Haustiere. Wieder andere sind einfach nur stur. Dabei ist die Feuerwehr teilweise von Haus zu Haus gegangen, um die Bewohner zu warnen. In Miami, St. Petersburg und Tampa wurde ein nächtliches Ausgangsverbot verhängt, um Plünderer abzuschrecken. Die Behörden befürchten großflächige Zerstörungen. Wenn es gefährlich werde, könnten die Daheimgebliebenen zwar die Notrufnummern wählen, sagt Sheriff Bob Gualtieri in Pinellas bei Tampa. „Aber wir werden nicht kommen.“
Zunächst peitscht „Irma“als Wirbelsturm der zweithöchsten Kategorie vier und mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 200 Stundenkilometern über die Florida Keys und bewegt sich langsam nordwärts. Anders als noch vor Tagen vorhergesagt, schiebt sich der Sturm nicht an der Atlantikküste von Florida entlang nach Norden, sondern an der Westküste.
Viel ändert dies für die Betroffenen aber nicht. „Irma“sei breiter als die gesamte Florida-Halbinsel und bedrohe deshalb den ganzen Staat, warnt Gouverneur Rick Scott. Er befürchtet, der Hurrikan könne an den flachen Küsten fünf Meter hohe Sturmfluten auslösen. „Das ist höher als ein Haus.“Scott erwartet eine Katastrophe, die selbst die Zerstörungen des Wirbelsturms „Andrew“1992 übertreffen könnte. Damals wurden mehr als 60 000 Häuser dem Erdboden gleichgemacht.
Bilder aus Miami und anderen Städten zeigen windgepeitschte und völlig verlassene Straßen. Die Behörden haben versucht, alles an Notunterkünften bereitzustellen, was geht. Das Boynton Freizeitzentrum in Palm Beach ist so eine. Alte und junge Menschen haben sich auf Luftmatratzen ausgestreckt. Sie wischen auf ihren Smartphones oder blättern in Zeitschriften. Hier und da unterhält sich jemand. Es ist erstaunlich ruhig hier. Ab und an ertönt ein leises „Miau“– hinter der Plastikplane, die die knapp 200 Menschen in der Unterkunft von den mehr als 80 Katzen trennt.
In ganz Florida haben bis Sonntagmittag mehr als 450000 Menschen Zuflucht in solchen Einrichtungen gesucht. Die Atmosphäre ist höflich, man hält sich die Tür auf, lächelt einander zu. „Wir sind nicht gerade das Hilton, aber es ist besser als nichts“, sagt Liz Harfmann vom Tierschutzamt des Landkreises Palm Beach County, die für die Notunterkunft zuständig ist.
In Key West ist Carol Walterson Stroud vorübergehend in einem Altersheim untergekommen. Sie sagt: „Ich habe Todesangst.“Strouds Mann wollte die Gegend, in der längst kein einziges Geschäft mehr geöffnet hat, partout nicht verlassen, und allein wagt sich die 60-Jährige nicht auf die Straße. Andere sind zu arm, um sich die lange Fahrt nach Norden und die Hotelunterkunft leisten zu können. Im Westen, bis hinauf nach Tampa, sind Hotelzimmer in halbwegs sicherer Lage ohnehin komplett ausgebucht.
Iris Goefsky, ihr Mann und ihre Tochter haben von ihrem Vermieter auch erst den Rat bekommen, sich Vorräte für sieben Tage zu beschaffen und in ihrem Haus „einzuigeln“. Es sollte ihr Traumurlaub werden in Cape Coral an der Ostküste. Bis die Lage immer bedrohlicher wurde. „Wir riefen Freunde in Orlando an und diese sagten, wir sollen kommen“, schreibt Iris Goefsky, die aus Nersingen bei Neu-Ulm kommt, per Mail. Dort sind sie nun im Landesinnern, erst bei Freunden untergebracht, seit gestern im Hotel, und wissen nicht, was kommt. „Wir sind froh, dass wir vom Wasser etwas weg sind, aber wir haben trotzdem Angst. Keiner weiß im Moment, was passieren wird.“
Wolfgang Lepschy geht es nicht anders. Der 49-Jährige kommt ursprünglich aus Rain am Lech im Kreis Donau-Ries und wohnt seit Jahren in der Nähe von Tallahassee im Nordwesten Floridas, wo er als Dozent an einem College arbeitet. Nun wartet der Mann in seinem Haus, und es sieht so aus, dass „das Auge des Hurrikans ziemlich nah auf uns zukommt“. Am schlimmsten sei die Ungewissheit, schreibt er in einer E-Mail an unsere Redaktion. Wie er sich vorbereitet? Viel könne er nicht tun, „außer Wasser in allen möglichen Behältern zu horten“– auch in der Badewanne.
Und dann: hoffen. „Hier auf dem Land“, sagt Lepschy, „harrt man aus.“Ohne Strom werde eben für ein paar Tage gegrillt. Oder, wie im Fall von Christian Reuter, Bürokram erledigt.