Die Katastrophe mit den Buchstaben
Lina Hellwig weiß, wie sehr Menschen unter Lese-, Schreib- und Rechenschwäche leiden und wie sehr sie Hänseleien ausgesetzt sind. Ein Appell am bundesweiten Aktionstag Legasthenie und Dyskalkulie
Burgau/Günzburg Einfach zur Tagesordnung übergehen? Das gelingt Lina Hellwig manchmal nicht. An diesen Tagen kann die Therapeutin nicht in die Praxis. Sie muss sich eine seelische Auszeit nehmen. Der 60-Jährigen gehen die Schicksale ihrer Schützlinge nahe. Vor ihr sitzen oft Buben und Mädchen, die ein großes Problem mit dem Lesen, Rechnen und Schreiben haben; und Mütter, die weinen, weil ihre Kinder als Idioten gelten, gehänselt werden, zu den Ausgestoßenen gehören. Und das alles nur, weil sie Buchstaben nicht zu Silben zusammensetzen und richtig vorlesen können. Oder weil sie Zahlen nicht voneinander abziehen oder zusammenzählen können.
Hellwig erzählt von dem Buben, vor dem sie auf dem Tisch fünf Figuren hinstellte. Er sollte sie abzählen. „Eins, zwei, drei, vier, fünf.“Dass klappte. Aber als es darum ging, dass er die ausgesprochene Zahl an die Tafel schreiben sollte, kam eine „4“heraus.
Es ist ein steiniger Weg, weiß Hellwig, um Menschen mit Rechen- schwäche (Dyskalkulie) oder einer Teilleistungsstörung im Bereich Lesen und Schreiben (Legasthenie) zu helfen. Die Pädagogin versucht es und geht sehr behutsam mit denjenigen um, die sie aufsuchen. Die Probleme entstehen, ohne dass es eine nachvollziehbare Erklärung wie generelle Minderbegabung oder unzureichende Beschulung gibt. Die Störung tritt bei der Wahrnehmungsverarbeitung auf und ist, so der Stand der Forschung, vermutlich genetisch angelegt.
Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie geht davon aus, dass in Deutschland ungefähr vier Prozent der Schüler von einer Legasthenie betroffen sind. Bei frühzeitiger Erkennung können die Probleme meist kompensiert werden. Im Umkehrschluss bedeutet das: Je später eine Therapie einsetzt, desto geringer sind in der Regel die erzielbaren Erfolge.
Der Bundesverband hat den heutigen 30. September zum bundesweiten Aktionstag ausgerufen – eine Initiative, der sich Hellwig gerne anschließt. „Wir müssen mehr über Legasthenie und Dyskalkulie wissen“, sagt sie und zielt vor allem auf die Schulen ab. Dort sei das Erscheinungsbild zu wenig bekannt und auch der Umgang mit dieser Störung, die nichts mit fehlender Intelligenz zu tun habe.
Häufig, sagt Hellwig, hören sich die Geschichten von verzweifelten Schülern, die nicht beim Schulpsychologen waren, ähnlich an: Lange Zeit schätze man diese Störung nicht richtig ein – und tue sie als Entwicklungsverzögerung ab, die sich schon wieder geben werde. Wenn das dann nicht der Fall sei, werde gerne die Förderschule empfohlen.
So eine Situation hat Sprengkraft, um Familien auseinanderzubringen. Hellwig kennt einen Vater aus dem Norden des Landkreises, der seine Frau und sein Kind verlassen hat, weil er es nicht mehr vermochte, mit der Lese- und Schreibschwäche des Nachwuchses umzugehen.
Und mancher Lehrer ist ganz offensichtlich überfordert. Die professionelle Sprach-, Lese- und Rechentrainerin berichtet von einem schmächtigen Jungen, der ihr vor einigen Jahren gegenübersaß. Er durfte nicht mehr an seine Schule, weil er öffentlich mit einem Amoklauf gedroht hatte. Der Hintergrund dieser Ankündigung war, dass ihn ein Lehrer vor der Klasse wieder und wieder wegen seiner Defizite lächerlich gemacht hatte. „Und hättest du so etwas wirklich gemacht?“, wollte Lina Hellwig von dem Häufchen Elend auf der anderen Seite des Tisches wissen. „Ich weiß es nicht“, antworte der Gefragte leise und begann zu weinen.
Die Kosten für eine Therapie übernimmt, wenn das Gutachten entsprechend ausfällt, das Jugendamt. 80 Stunden werden dann in der Regel bezahlt. Im vegangenen Jahr wurden 34 Fälle im Landkreis Günzburg finanziert. Der Durchschnittswert in den bayerischen Landkreisen liegt bei 42. An was es liegt, dass verhältnismäßig wenige Menschen einen Antrag stellen, diese Eingliederungshilfe in Anspruch zu nehmen, kann Antonia Wieland nur zu vermuten. „Vielleicht ist diese Möglichkeit zu wenig bekannt. Und vielleicht spielt auch Scham ein Rolle“, so die Leiterin des Kreisjugendamts.
Doch dazu bestehe absolut kein Anlass, sagt Lina Hellwig und berichtet von vielen hundert Kindern, die sich mit ihrer Hilfe die Störung regelrecht abtrainiert hätten und heute glücklich seien. „Man sollte niemals einen Menschen aufgeben“, rät sie.
Dass die Chancengleichheit eines Schülers von Landesgrenzen und der Kultushoheit abhängig ist, versteht die Expertin nicht. Legastheniker dürfen wegen ihres Handicaps in Bayern und Baden-Württemberg für Schularbeiten länger brauchen. Für Schüler mit Rechenschwäche gibt es die Zeitgutschrift Hellwig zufolge nur im Südwesten, nicht aber im Freistaat.