Polizei startet Charmeoffensive
Nicht jeder traut sich, im Zweifel die 110 zu wählen. Die Beamten wollen das ändern. Wie das gelingen soll und warum sie gerade jetzt auf Passanten zugehen
Neu Ulm Die Frau mit den grauen Locken schaut etwas überrascht, als der hochgewachsene junge Mann in blauer Uniform auf sie zukommt. Sie bleibt stehen, so wie fast alle Passanten an diesem Tag. Felix Krammer, der Mann in der Uniform, ist Polizeischüler bei der Bereitschaftspolizei Königsbrunn. Gemeinsam mit Kollegen ist er in Neu-Ulm unterwegs, um mit Bürgern ins Gespräch zu kommen. Die Beamten wollen Aufklärungsarbeit leisten – und die Bürger ermuntern, im Zweifel die Notrufnummer 110 zu wählen, wenn ihnen etwas verdächtig vorkommt.
Daniela Husseneder ist Kommissarin in Kempten und koordiniert die „110-Kampagne“. Sie sagt: „Die Scheu ist sehr groß – insbesondere bei älteren Leuten.“Die Kampagne findet im kompletten Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Schwaben Süd/West statt, das sich um die Sicherheit im Allgäu und in den Landkreisen Neu-Ulm und Günzburg kümmert. Den Auftakt der „110-Kampagne“bildet der Aktionstag in Neu-Ulm, wo die Polizisten am Dienstag vor der Glacis-Galerie und am Petrusplatz mit Handzetteln auf Passanten zugehen. Zeitgleich finden Aktionen in Kempten und Memmingen statt, weitere Orte sollen folgen. „Das soll bis zum ganz kleinen Örtchen gehen“, sagt Organisatorin Husseneder. Genaueres stehe noch nicht fest. Klar ist nur, dass in den ersten beiden Novemberwochen die nächsten Stationen angesteuert werden sollen. Die Termine sind mit Bedacht gewählt: Weil die Dämmerung abends früher beginnt, steigt auch das Einbruchsrisiko.
Die Polizeischüler haben sich auf dem Petrusplatz verteilt. Alle sind in Gespräche verwickelt. Etwa 30 Unterhaltungen habe sie in zwei Stunden geführt, erzählt eine Polizistin. Das Interesse sei noch größer als erwartet, sagt Organisatorin Husseneder. Vor der Petruskirche spricht eine Polizistin mit einer Familie mit Kinderwagen. Ein paar Meter weiter hört ein schlanker Beamter einer Seniorin mit Steppjacke zu. Und Polizeischüler Felix Krammer fragt Annemarie Catapano, die Passantin mit den grauen Locken: „Haben Sie selbst schon einmal etwas Verdächtiges beobachtet?“Die Frau überlegt und berichtet von Leuten, die sich in ihrer Nachbar- schaft an Autos zu schaffen gemacht haben sollen. Krammer nickt. „Wir kennen das. Worum es uns geht: Dass Sie dann nicht zögern, die 110 anzurufen.“Er reicht Catapano einen Handzettel. „Anrufen! Beim kleinsten Verdacht!“, steht darauf. Dann verabschiedet sich der Polizeischüler und geht auf den nächsten Passanten zu. Währenddessen sagt seine Gesprächspartnerin: „Ich finde sehr gut, was die Polizei hier macht. Ich hätte wahrscheinlich nicht die 110 angerufen, sondern die Polizei in Neu-Ulm.“
Warum das ein Problem ist, erklärt Rainer Finkel, der kommissarische Leiter der Polizei Neu-Ulm. Es sei besser, die Notrufnummer anzurufen als bei einer Dienststelle: „Die 110 ist durchgängig besetzt. Bei uns landen Sie gegebenenfalls in der Warteschleife, wenn wir einen Unfall haben oder eine Schlägerei.“Organisatorin Husseneder sieht weitere wichtige Botschaften: „Gerade viele ältere Menschen fürchten, dass sie mit einem unwichtigen Anruf die Leitung der Polizei belegen könnten.“Doch das sei schon lang Vergangenheit, die Polizei sei über die Notrufnummer durchgehend und über viele Leitungen erreichbar. Die Angst vor einem strafbaren Missbrauch der Notrufnummer sei unbegründet: „Da geht es ja darum, dass man vorsätzlich anruft.“Wenn sich ein Anrufer getäuscht habe, sei das unproblematisch.
Neu-Ulms Polizeichef Finkel hat an Handzettel für die Passanten Gefallen gefunden. Auf der Rückseite ist aufgedruckt: „Der Beamte am Notruf-Telefon benötigt folgende Angaben von Ihnen“, es folgt eine Aufzählung. Den Handzettel sollen die Bürger neben ihr Telefon legen, empfehlen die Beamten. Viele seien bei einem Anruf bei der Polizei aufgeregt oder würden Details vergessen.
Aus Sicht der Organisatorin ist der Auftakt ein Erfolg
Manche Sorgen der Bürger sind unbegründet
„Manche Leute sagen uns, sie haben ein dunkles Auto mit dunklen Männern gesehen. Aber nachts gibt es viele dunkle Männer in dunklen Autos“, sagt Finkel.
Bei den Passanten kommen die Handzettel an. Ein Passant, der seinen Weg eigentlich schon fortgesetzt hat, dreht abrupt um und kommt zurück. „Kann ich noch einen haben?“, fragt er. Nur ein paar Schritte weiter hat eine Frau noch eine Frage an die Polizisten: „Wie ist das in Württemberg mit dem Notruf?“, erkundigt sie sich mit einem Augenzwinkern. „Genauso“, antwortet ein Polizeischüler.