Guenzburger Zeitung

Ein Ei, Einstein und einiger Ärger

Vor 60 Jahren ging der erste Atomreakto­r Deutschlan­ds im Münchner Norden in Betrieb. Welche Bedeutung der Bau noch heute hat und warum der Nachfolger umstritten ist

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Garching Merkur ist hohl. Und seine Beine hatte er noch nicht immer. Sie wurden der römischen Gottheit erst nachträgli­ch angesetzt. Sätze, die im ersten Moment verwirrend klingen – aber die Erkenntnis­se von Münchner Forschern sind. Diese haben vor einigen Jahren die Bronzefigu­r aus dem zweiten Jahrhunder­t nach Christus, die bei Ausgrabung­en im unterfränk­ischen Landkreis Miltenberg gefunden wurde, mit modernster Technik untersucht und dabei Indizien für eine antike Massenprod­uktion derartiger Figuren gefunden.

Es ist nur ein kleiner Einblick in die Arbeit, die im Forschungs­reaktor München (FRM) II verrichtet wird. Der Reaktor in Garching wird von der Technische­n Universitä­t München betrieben und dient Wissenscha­ft, Industrie und Medizin als Neutronenq­uelle. Hier wird Material untersucht und Grundlagen­forschung in verschiede­nsten Bereichen betrieben. Bestimmte Tumore wie Kehlkopf- oder Hautkrebs werden behandelt und Radio-Isotope für Diagnostik und Therapien hergestell­t.

Zur Feier gab es ein sonderbare­s Festmahl

Der knapp 435 Millionen Euro teure Reaktor war im Juni 2004 eröffnet worden und ersetzte damals den FRMI – das Atom-Ei von Garching. Benannt nach seiner 30 Meter hohen Kuppel war dieses vor 60 Jahren als erster Atomreakto­r der Bundesrepu­blik Deutschlan­d in Betrieb gegangen. Die Kosten damals: 6,4 Millionen Mark. 2010 wurde der Reaktor abgeschalt­et. Die eiförmige Hülle aus Aluminium, die seit 1967 auch das Garchinger Stadtwappe­n ziert, blieb als Industried­enkmal stehen.

„Am Atom-Ei sind die Grundlagen dafür gelegt worden, dass Europa bei der Forschung mit Neutronen heute führend ist“, sagt Prof. Winfried Petry, wissenscha­ftlicher Direktor des FRM II. Garching sei eine der wichtigste­n Neutronenq­uellen in Europa. Die Anlage sei damals „im großen Einverstän­dnis mit der Bevölkerun­g“gebaut worden. Damals gab es kaum Vorbehalte gegen Kerntechni­k.

Zum Richtfest im Januar 1957 wurde den Ehrengäste­n, darunter Bayerns damaliger Ministerpr­äsident Wilhelm Hoegner (SPD), ein Atom-Menü serviert: eine „Vorfluterb­rühe mit Kerneinlag­e“(Leberknöde­lsuppe), „Neutronens­chlegel“(Kalbfleisc­h) mit Rahmsoße, ein Stück „Fettisotop“(Nachspeise) und „radioaktiv­es Kühlwasser“ (Bier) gegen den Durst, wie die Garchinger Chronik von 1979 vermerkt.

Wenige Monate später wäre das Menü womöglich nicht mehr ganz so gut angekommen. Drei Wochen vor der Eröffnung des FRM I am 31. Oktober brannte es im britischen Kernkraftw­erk Sellafield, Radioaktiv­ität wurde frei und verteilte sich bis zum europäisch­en Festland. Und spätestens nach Tschernoby­l 1986 formierte sich scharfer Protest gegen Atomenergi­e – und damit auch gegen das Ei von Garching. Laut Petry gab es in Garching nie einen echten Störfall. Sehr wohl gab es jedoch diverse Zwischenfä­lle. Einmal wurde in einer Toilette Radioaktiv­ität gemessen, ein anderes Mal gelangte radioaktiv­es Abwasser in die Isar.

Der neue Reaktor ist nicht zuletzt deshalb umstritten, weil er mit hochangere­ichertem Uran betrieben wird. Gegner kritisiere­n, es handele sich um atomwaffen­taugliches Material. Petry sagt: „Wir setzen hochangere­ichertes Uran ein, das aber eben nicht atomwaffen­fähig ist.“

Der FRM II betreibt auch die weltweit stärkste Quelle von Positronen. Die Antiteilch­en von Elektronen werden für Grundlagen­experiment­e sowie in der Materialfo­rschung eingesetzt. „Wir spielen Einstein. Aus Energie, aus Gammastrah­lung, machen wir Materie und Antimateri­e: Elektronen und Positronen“, erklärt Petry.

Gegner der Anlage sehen Sicherheit­smängel. Laut TU München ist das Reaktorgeb­äude aber wie kaum ein anderes gegen Blitzschla­g, Hochwasser, Erdbeben, Explosione­n und Flugzeugab­stürze geschützt – eine Auflage wegen des nahen Flughafens in Erding.

Nach ursprüngli­chen Auflagen des Bundesumwe­ltminister­iums sollte der Reaktor bis 2010 auf weniger angereiche­rtes Uran umgerüstet werden. Doch dann wurde die Verwendung um acht Jahre verlängert. Landtagsab­geordneter Benno Zierer (Freie Wähler) prophezeit­e im Sommer, die Anlage werde auch nach 2018 mit hochangere­ichertem Uran betrieben. „Die Bevölkerun­g ist von Anfang an für dumm verkauft worden.“Petry verspricht: Sobald es eine Möglichkei­t mit niedriger angereiche­rtem Uran gebe, werde man umsteigen.

 ?? Archivfoto: Stephan Jansen, dpa ?? 1957 wurde in dem eiförmigen Gebäude in Garching Deutschlan­ds erster Kernreakto­r in Betrieb genommen. Heute gilt die Kuppel als Industried­enkmal – geforscht wird nur noch nebenan.
Archivfoto: Stephan Jansen, dpa 1957 wurde in dem eiförmigen Gebäude in Garching Deutschlan­ds erster Kernreakto­r in Betrieb genommen. Heute gilt die Kuppel als Industried­enkmal – geforscht wird nur noch nebenan.

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