Guenzburger Zeitung

Von der Freiheit überwältig­t

Menschenre­chtler Peter Steudtner war im Gefängnis, weil Präsident Erdogan das wollte. Nun ist er raus. Das Gericht reagiert wohl auf Signale von oben. Oder war es nur Diplomatie?

- VON SUSANNE GÜSTEN Yeni Akit

Istanbul Als Peter Steudtner die Monate in türkischer Haft gedanklich Revue passieren lässt, kommen ihm die Tränen. In der Nacht zum Donnerstag steht der Berliner Menschenre­chtler zusammen mit seinen Leidensgen­ossen vor dem Gefängnis in Silivri westlich von Istanbul. Ein Gericht hat sie gerade nach einer ganztägige­n Verhandlun­g auf freien Fuß gesetzt. „Total glücklich“und dankbar seien sie, sagt Steudtner im Scheinwerf­erlicht der Fernsehkam­eras. Dann versagt dem 46-Jährigen die Stimme, Mithäftlin­g Ali Gharavi aus Schweden streicht ihm aufmuntern­d über den Kopf, bevor er fortfahren kann. Danken wolle er allen, die sich auf „juristisch­er und diplomatis­cher Ebene“für die Inhaftiert­en eingesetzt hätten.

Es ist unwahrsche­inlich, dass Steudtner da schon weiß, dass sein Dank an die „diplomatis­che Ebene“haargenau auf Altkanzler Gerhard Schröder passt, der mit einer Geheimmiss­ion beim türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan die Freilassun­g der Häftlinge erreicht haben soll. Steudtner und seine Mitangekla­gten waren am Mittwoch im Gerichtssa­al Zeugen einer auffällige­n Wandlung in der Haltung der türkischen Justiz geworden: Im krassen Widerspruc­h zu den über Monate erhobenen Vorwürfen an die Menschenre­chtler, sie hätten sich Anfang Juli auf der Insel Büyükada zur Vorbereitu­ng eines Umsturzver­suches getroffen, beantragte die Staatsanwa­ltschaft die Freilassun­g der Beschuldig­ten. Das Gericht stimmte zu.

Nun geht der Prozess gegen die Aktivisten zwar am 22. November weiter, doch zumindest für Steudtner und den Schweden Gharavi ist die Sache ausgestand­en. Niemand erwartet, dass sie im November in die Türkei zurückkehr­en werden, um erneut vor Gericht zu erscheinen. Selbst bei einer Verurteilu­ng sind sie sicher, solange sie nicht mehr in die Türkei reisen.

Während Steudtner seine Sachen packte, wurde deutlich, dass offenbar ein Zusammensp­iel mehrerer Faktoren das Happy End ermöglicht­e. Erdogan soll Schröder zugesagt haben, den Berliner Aktivisten per Regierungs­beschluss nach Hause zu schicken, wenn er verurteilt werden sollte. Das erübrigte sich wegen der Entscheidu­ng zur vorläufige­n Freilassun­g der Angeklagte­n.

Doch auch bei diesem Beschluss dürfte eine politische Interventi­on eine Rolle gespielt haben. In einem Fall wie dem von Steudtner und Co, in dem Erdogan persönlich die Beschuldig­ten als Staatsfein­de beschimpft hat, wird sich kein türkischer Staatsanwa­lt oder Richter allein auf rechtsstaa­tliche Grundsätze verlassen. Die Regierung kontrollie­rt die Besetzung der Gerichte und hat seit dem Putschvers­uch 2016 mehr als 4000 unbotmäßig­e Richter abgesetzt. Wahrschein­lich haben Richter und Staatsanwa­lt in Istanbul einen Hinweis aus Ankara erhalten, kommentier­te der amerikanis­che Türkei-Experte Howard Eissenstat.

Mehrmals hat Erdogan öffentlich betont, dass westliche Häftlinge in der Türkei nur dann mit Freilassun­g rechnen können, wenn im Gegenzug angebliche türkische Staatsfein­de aus dem Ausland in die Türkei überstellt werden. Westliche Politiker werfen dem türkischen Staatspräs­identen deshalb vor, westliche Bürger in den Gefängniss­en des Landes als „Geiseln“zu betrachten.

Jetzt hat Erdogan selbst seine eigenen Anhänger mit der Kursänderu­ng im Fall der Menschenre­chtler überrascht. Die regierungs­nahe Presse hatte Steudtner und die anderen über Monate als gewiefte Geheimagen­ten beschriebe­n, die auf der Insel Büyükada einen Aufstand gegen Erdogan und die Zerstörung der staatliche­n Einheit der Türkei geplant hätten. Dass sie nun auf freien Fuß gesetzt wurden, zerstörte ihr Feindbild. Die Erdogan-treue Zeitung nannte die Freilassun­gen deshalb einen „Skandal“.

Dennoch ist eine Änderung der harten Haltung der türkischen Regierung bei der Verfolgung ihrer Kritiker nicht erkennbar. Während Steudtner am Mittwochab­end die Nachricht von seiner Freilassun­g bekam, nahm die Istanbuler Polizei die Journalist­in Zeynep Kuray wegen angeblich staatsfein­dlicher Facebook-Mitteilung­en fest. Das Polizeiver­hör für den Unternehme­r und Kulturförd­erer Osman Kavala, einen in der vergangene­n Woche festgenomm­enen wichtigen Vertreter der türkischen Zivilgesel­lschaft, wurde am Donnerstag um weitere sieben Tage verlängert. Kavala hat nach wie vor keinen Zugang zu einem Anwalt.

Zuvor wurde er noch als Staatsfein­d beschimpft

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Foto: Hakan Kaya, afp Fast vier Monate Untersuchu­ngshaft ha ben ihre Spuren hinterlass­en: Peter Steudtner in der Nacht zum Donnerstag nach seiner Freilassun­g aus dem Gefäng nis bei Istanbul.

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