Guenzburger Zeitung

Wenn Anwohner in ein Loch fallen

Saniert eine Kommune in Bayern eine Straße, werden gerne die Anlieger mit zur Kasse gebeten. Dabei kann es um viele tausend Euro gehen. Nun machen immer mehr Bürger ihrem Ärger darüber Luft und fordern die Abschaffun­g eines umstritten­en Gesetzes

- VON MICHAEL BÖHM

100 000 Euro für eine „neue“Straße Verfassung­sgerichtsh­of soll entscheide­n

Der Name verspricht Pomp, Königinnen und Prinzen, Pferdekuts­chen – und natürlich ein Schloss. Doch der Name kann nicht halten, was er verspricht. Ja, es gibt ein Schloss in der Schlossstr­aße in Reutti. Von der Ulmer Patrizierf­amilie von Roth im 16. Jahrhunder­t erbaut, thront es noch heute majestätis­ch auf einem Berg des Neu-Ulmer Stadtteils. Doch die Straße dorthin ist weit weniger herrschaft­lich. Insbesonde­re, wenn man auf dem Hof von Landwirt Ludwig Botzenhard­t steht und mit ihm über die Schlossstr­aße vor seinem Grundstück spricht. Sie ist der Grund für seinen Ärger.

Nein, die Straße ist keine dieser Schlagloch­pisten, die es in so vielen Städten und Gemeinden gibt. Sie ist in Ordnung, von ein paar Schönheits­fehlern abgesehen. In den 1960er Jahren hat ein Bauunterne­hmer aus privatem Interesse den Weg zu seinem Anwesen in Eigenregie und auf eigene Kosten asphaltier­t. Auf Dinge wie Gehwege, Laternen oder Abwasserri­nnen verzichtet­e er. Das hat nun unangenehm­e Konsequenz­en für Ludwig Botzenhard­t.

Er soll jetzt dafür zahlen, dass sich das ändert. Die Stadt Neu-Ulm will die Schlossstr­aße, die auch zu einer Mehrzweckh­alle führt, an die heutigen Standards anpassen. Ein neuer Fahrbahnbe­lag soll her, dazu ein Gehweg, ein Kanal und Straßenlat­ernen. Die Stadt bittet die Anlieger zur Kasse. Und das durchaus in einem Maße, das dem herrschaft­lich klingenden Namen des asphaltier­ten Weges gerecht wird. Mehr als 100000 Euro soll allein Botzenhard­t dafür zahlen, dass die seit Jahren bestehende Straße vor seinem rund 6000 Quadratmet­er großen Grundstück saniert wird. Weitere 150000 Euro sollen die anderen Anlieger gemeinsam berappen.

Die Stadt beruft sich dabei auf geltendes Recht. Weil es sich bei den Baumaßnahm­en streng genommen nicht um die Sanierung einer bestehende­n, sondern um die erstmalige Erschließu­ng einer Straße handle, müssten die Anlieger 90 Prozent der Kosten tragen. So wie in jedem Neubaugebi­et auch. Bei einer reinen Sanierung hätte die Stadt mehr Spielraum und könnte, je nach Art der Straße, bis zu 80 Prozent der Kosten selbst übernehmen. Bei der Schlossstr­aße will sie das aber nicht.

Nun ist Landwirt Botzenhard­t kein Querulant, der sich aus Trotz nicht an den Kosten für eine Straße vor seinem Haus beteiligen möchte. „Wenn das die Rechtslage ist, dann halte ich mich auch daran“, sagt er. Zumal der Gehweg und die Laternen in seinem Sinne und dem der Bürger Reuttis seien. Es ist die Art und Weise, wie die Stadt mit ihm und seinen Nachbarn umgeht, die den 54-Jährigen auf die Palme bringt. Der Oberbürger­meister rede nicht mehr mit ihm, weil er einen Anwalt eingeschal­tet habe. Die Straße gebe es schon seit Jahrzehnte­n, von einer Ersterschl­ießung könne also keine Rede sein. Und warum er so viel, andere Nachbarn dagegen – darunter die Stadt als Eigentümer der Mehrzweckh­alle – gar nichts bezahlen sollen, verstehe er auch nicht. Kurzum: Wenn Ludwig Botzenhard­t das Wort Erschließu­ngsbeiträg­e hört, dann steigt sein Puls.

Da geht es ihm wie derzeit vielen Menschen in Bayern. Quer durch den Freistaat wird darüber gestritten, ob es denn sein muss, dass Grundstück­seigentüme­r für den Bau beziehungs­weise den Erhalt einer Straße bezahlen müssen. Eigentum verpflicht­et, sagen die einen. Die Straßen werden von allen genutzt, sagen die anderen.

Der Streit ist nicht neu. Aber in den vergangene­n Jahren hat er deutlich an Fahrt gewonnen. „Der Unmut in Bayern wird immer größer“, sagt Wolfgang Schubaur. Von 1990 bis 2002 war er Bürgermeis­ter der Stadt Burgau bei Günzburg und hat regelmäßig Rechnungen für Baumaßnahm­en an seine Bürger verschickt. „Beliebt macht man sich damit nicht gerade“, erzählt er. Als es um die Jahrtausen­dwende darum ging, die Kosten für eine neue Kläranlage auf die Bürger umzulegen, habe ihm das 2002 die Wiederwahl gekostet, ist sich Schubaur sicher.

Danach hat er die Seiten gewechselt. Heute ist der 59-Jährige Rechtsanwa­lt. Spezialgeb­iet: Verwaltung­srecht. Regelmäßig steht er vor Gericht ehemaligen Amtskolleg­en gegenüber. Jeder dritte seiner Fälle hat mit Klagen gegen die von Kommunen erhobenen Erschließu­ngsoder Straßenaus­baubeiträg­e zu tun. Und es werden immer mehr.

Gründe dafür gibt es laut Schubaur mehrere. Einer sei der stetig schlechter werdende Zustand der Straßen. Viele stammten aus den 60er- und 70er-Jahren und kämen nun an ihre Grenzen. Die Kommunen müssten immer mehr sanieren, zwangsläuf­ig müssten immer mehr Bürger zahlen. Dann sei da die Höhe der zu zahlenden Beiträge, vor denen die allgemein steigenden Baukosten nicht Halt machen. „Es ist keine Seltenheit, dass Eigentümer plötzlich fünfstelli­ge Beträge zahlen müssen. Für viele kann das existenzbe­drohend sein“, erzählt Schubaur. Nicht nur einmal sei er vor weinenden Menschen gesessen, die ihre angesparte Altersvors­orge quasi in den Asphalt vor der Haustüre fließen sahen.

Daran ändere auch die Möglichkei­t der Kommunen nichts, statt einmalig hohe Beiträge von einzelnen Anliegern jährlich wiederkehr­end geringere Beiträge von allen Eigentümer­n zu verlangen. Das hat der Landtag den Bürgermeis­tern freigestel­lt. Bislang hat nach Informatio­nen des Innenminis­teriums allerdings erst eine einzige bayerische Gemeinde darauf reagiert. Der Aufwand sei zu hoch, heißt es vielerorts.

Und dann ist da noch die Sache mit der Ungerechti­gkeit. Diese hat ihren Ursprung vor allem in einem Wort. In Artikel 5 des Kommunalab­gabengeset­zes steht, dass Gemeinden zur Deckung der Kosten bei der Verbesseru­ng und Erneuerung von Ortsstraße­n Beiträge von den Anliegern erheben sollen. Sollen. Jahrelang legte der Großteil der Kommunen dieses „Sollen“als „Müssen“aus und bat die Bürger zur Kasse. Andere verstanden „Sollen“eher als „Können“und verzichtet­en darauf.

Vor ziemlich genau einem Jahr stellte dann der Bayerische Verwaltung­sgerichtsh­of endgültig klar: Das Sollen ist für alle ein Muss! Städte und Gemeinden sind also dazu verpflicht­et, bei Sanierunge­n von Ortsstraße­n Ausbaubeit­räge zu verlangen. Wer das bislang noch nicht tat, müsse eine entspreche­nde Satzung einführen. Der Aufschrei war groß und er hallt noch immer nach. Viele Kommunen weigern sich trotz Drucks von oben weiterhin, die ungeliebte­n Beiträge zu erheben – teils aufgrund erhebliche­n Widerstand­s aus der Bevölkerun­g. In Schongau beispielsw­eise gingen die Bürger wochenlang auf die Straßen, um gegen die sogenannte Straßenaus­baubeitrag­ssatzung, kurz „Strabs“, zu demonstrie­ren. Mit Erfolg. Vor einigen Tagen lehnte der Gemeindera­t die Einführung einstimmig ab. So herrscht nach wie vor große Uneinigkei­t. In der einen Gemeinde wird gezahlt, in der anderen nicht.

Dazu kommen noch Urteile, Sonderfäll­e und Ausnahmere­gelungen, die deutlich machen, welch seltsame Blüten der Streit treiben kann. So darf beispielsw­eise die Landeshaup­tstadt weiterhin auf die Erhebung der Beiträge verzichten. In München sei der Aufwand viel zu hoch und stehe in keinem Verhältnis zum zu erwartende­n Ertrag. Dann gibt es unterschie­dliche Regeln für ein und dieselbe Straße. So klagen in Neu-Ulm Anwohner der HeinrichHe­ine-Straße, weil sie für deren Sanierung zur Kasse gebeten werden sollen – die wenige hundert Meter entfernt wohnenden Nachbarn aber nicht, weil deren Bauabschni­tt ein paar Jahre früher an der Reihe war.

Und im 1200-Seelen-Dorf Finningen regen sich die Bürger auf, weil sie für eine viel befahrene Staatsstra­ße durch ihr Dorf zahlen müssen – die Einwohner des fünf Kilometer entfernt liegenden Holzheim mit seinen 1800 Einwohnern aber nicht. Grund: Finningen ist seit der Gebietsref­orm in den 70er-Jahren ein Stadtteil von Neu-Ulm, und damit ist die Große Kreisstadt für den Erhalt der Staatsstra­ße im Ort zuständig. Holzheim dagegen ist eine eigenständ­ige Gemeinde. Hier würde der Freistaat die Kosten für einen neuen Fahrbahnbe­lag der Staatsstra­ße übernehmen. „Die Straße ist dieselbe und die Belastung auch. Ob ein Anwohner zahlen muss oder nicht, ist in diesem Fall eine reine Zufälligke­it. Kein Mensch hat Verständni­s für eine Regel, die so undurchsic­htig und uneinheitl­ich ist“, sagt Anwalt Schubaur. Für ihn ist klar: Die Straßenaus­baubeiträg­e gehören abgeschaff­t. Und mit dieser Meinung steht er nicht allein da.

Erst kürzlich griffen die Freien Wähler im Landtag diese Forderung auf. Gerade für ältere Menschen, die von kleinen Renten leben müssten, seien die Ausbaubeit­räge eine unzumutbar­e Belastung. Bürgermeis­ter kämen unter Druck, weil der Ärger mit den Bürgern programmie­rt sei und Verwaltung­en und Gerichten würden die Klagen der Bürger nur zusätzlich­e Arbeit bescheren. Und das alles für rund 60 Millionen Euro – so viel Geld kassieren die bayerische­n Kommunen jährlich über die Straßenaus­baubeiträg­e. „Bei einem Haushaltsv­olumen von 60 Milliarden Euro könnte es sich der Freistaat locker leisten, diese Kosten für die Kommunen zu übernehmen“, sagt FW-Chef Hubert Aiwanger. Noch in diesem Monat wollen die Freien Wähler einen Gesetzentw­urf in den Landtag einbringen, der genau das regeln würde.

Bereits Mitte Oktober haben der Eigenheime­rverband Bayern und der Verband Wohneigent­um Bayern eine Popularkla­ge beim Bayerische­n Verfassung­sgerichtsh­of eingereich­t. In der 55-seitigen Klageschri­ft wird unter anderem kritisiert, dass im Kommunalab­gabengeset­z zwar davon die Rede sei, dass die Grundstück­seigentüme­r durch die Sanierung einer angrenzend­en Straße einen Vorteil hätten – nicht aber, welcher das sein soll. „Mit einer neuen Straße geht auch mehr Verkehr, mehr Lärm und mehr Gestank einher. Davon steht im Gesetz aber kein Wort“, argumentie­rt Wolfgang Kuhn, Präsident des Eigenheime­rverbandes. Zudem würden Politik und Wirtschaft oft davon sprechen, dass Wohneigent­um eine der letzten sicheren Bastionen der Altersvors­orge sei. Diese Aussage werde mit den Straßenaus­baubeiträg­en, die „wie ein Damoklessc­hwert über den Eigentümer­n schweben“, ad absurdum geführt. „Unser Traumziel wäre es, wenn in Bayern gar niemand mehr diese Ausbaubeit­räge zahlen muss. So wie es in anderen Bundesländ­ern, zum Beispiel in Baden-Württember­g, ja auch schon der Fall ist“, sagt Kuhn.

Die Bereitscha­ft für die Abschaffun­g scheint allerdings nicht allzu groß zu sein. „Die Straßenaus­baubeiträg­e sind ein unverzicht­bares Finanzieru­ngsmittel“, sagt Bernd Buckenhofe­r, Geschäftsf­ührer des Städtetags. Im Innenminis­terium will man erst im Frühjahr 2018 wieder über das Thema sprechen – und analysiere­n, wie die Kommunen auf die Möglichkei­t, wiederkehr­ende Beiträge einzuführe­n, reagiert haben. Das hätten alle Fraktionen des Landtags 2016 gemeinsam beschlosse­n. Das Vorpresche­n der Freien Wähler sei eine „populistis­che Kehrtwende“, schimpft der CSUAbgeord­nete Florian Herrmann.

Ludwig Botzenhard­t aus der Schlossstr­aße in Reutti schaut sich den Streit um die „Strabs“aus der Ferne an. Er würde selbst von deren Abschaffun­g vermutlich nicht profitiere­n. Denn die Stadt wird voraussich­tlich auch danach noch darauf beharren, dass es sich bei der Schlossstr­aße um eine Ersterschl­ießung handelt. „Ich werde weiter kämpfen und versuchen, mit der Stadt eine gute Lösung zu finden“, sagt der Landwirt. Doch seine Erfahrunge­n aus früheren Fällen stimmen ihn nur bedingt optimistis­ch: „Wir werden uns streiten und am Ende werde ich trotzdem zahlen. Das war immer schon so.“

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Archivfoto: Alexander Kaya Und wieder ein Schlagloch: Viele Straßen in Bayern (hier Neu Ulm) stammen aus den 60er und 70er Jahren und kommen nun an ihre Grenzen.
 ?? Foto: Alexander Kaya ?? „Ich werde weiter kämpfen“: Ludwig Botzenhard­t in der Schlossstr­aße im Neu Ulmer Stadtteil Reutti. Im Hintergrun­d steht die Mehrzweckh­alle.
Foto: Alexander Kaya „Ich werde weiter kämpfen“: Ludwig Botzenhard­t in der Schlossstr­aße im Neu Ulmer Stadtteil Reutti. Im Hintergrun­d steht die Mehrzweckh­alle.

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