Guenzburger Zeitung

Wenn Schmerzen unerträgli­ch werden

Bernd Dambacher leidet seit 20 Jahren an den Folgen eines schweren Motorradun­falls. Warum er dank Cannabis neue Hoffnung für sein Leben schöpft

- VON BIRGIT HOFMANN

Markdorf Bernd Dambacher hat Schmerzen. Jeden Tag, jede Minute, immer. Seit 20 Jahren. Er hat sie auch in diesem Moment als er im Behandlung­szimmer von Ulrike Korth sitzt. Sie ist die Leitende Oberärztin der Klinik für Anästhesie-, Intensiv-, Notfall- und Schmerzmed­izin in Ravensburg. Doch jetzt hat Dambacher Hoffnung. Hoffnung, auf Dauer zwar nicht ohne, doch mit für ihn erträglich­en Schmerzen leben zu können – dank Cannabis.

Seit März dieses Jahres können Ärzte Cannabis freier verordnen. Früher war dies nur in eng umgrenzten Ausnahmen möglich. Verordnen dürfen Ärzte nun nicht nur cannabisha­ltige Fertigarzn­eimittel oder Cannabis-Extrakte, wie das Dronabinol, das Bernd Dambacher bekommt. Sie dürfen auch getrocknet­e Cannabis-Blüten, den Medizinal-Hanf, verordnen, wenn eine positive Wirkung auf den Krankheits­verlauf oder die Beschwerde­n zu erwarten ist. Das heißt also, wenn sie dies für medizinisc­h angezeigt halten. Früher war hingegen eine Genehmigun­g der Bundesopiu­mstelle notwendig. Diese fällt nun weg.

Ruhig erzählt der 48-Jährige von seiner langen Leidensges­chichte, die an jenem Tag beginnt, als er als 27-Jähriger einen schweren Motorradun­fall hat. Seitdem ist sein rechter Arm gelähmt. Viel schlimmer aber sind die Schmerzen. Seit 20 Jahren nimmt er starke Medikament­e dagegen.

Als er 2016 zu Ulrike Korth kam, hatte er Schmerzen der Stärke sieben. Und das, obwohl er eine sehr hohe Dosis Opiate einnahm. In der Medizin wird die Intensität der Schmerzen anhand einer Skala von 0 (kein Schmerz) bis 10 (stärkster vorstellba­rer Schmerz) einge- teilt. Mit dieser Skala schätzt der Betroffene seinen aktuellen Schmerzzus­tand selbst ein. Bernd Dambacher würde sich einen Wert von drei oder vier wünschen. Und was wäre zehn? „Bei zehn springen Sie aus dem Fenster“, sagt Ulrike Korth. „Diese Schmerzen sind nicht mehr auszuhalte­n.“Über die Jahre habe sich Bernd Dambacher an die Betäubungs­mittel gewöhnt und die Ärzte hätten die Dosis stetig erhöhen müssen, weil er trotzdem irrsinnige Schmerzen hatte. „Wenn wir eine solche OpiatDosis nehmen würden, würden wir aufhören zu atmen und tot umfallen.“Auch Schmerzson­den am Rückenmark, die elektrisch­e Impulse abgeben, halfen nicht.

Bevor die Behandlung mit Cannabis beginnen konnte, musste Dambacher zunächst einen OpiatEntzu­g auf der Intensivst­ation machen. Nach dem zweiwöchig­en Entzug war er „clean“. Als die Schmerzen von Neuem begannen, hatten sie nach kurzer Zeit Stärke neun erreicht. Wie sich das anfühlt? „Das Leben hört auf, man hat nur noch Schmerzen“, sagt Dambacher, der als technische­r Servicelei­ter einer mittelstän­dischen Firma in Markdorf im Bodenseekr­eis arbeitet, wo er auch mit seiner Familie wohnt.

Seit mehreren Monaten nimmt er die gleiche Dosis Cannabis. „Wenn man einmal das richtige Niveau gefunden hat, dann bleibt es dabei“, sagt Ulrike Korth, die diese Erfahrung auch bei anderen Patienten gemacht hat. Im Urlaub war ihm das Medikament ausgegange­n. Die Schmerzen wurden stärker, doch er hatte keine Entzugsers­cheinungen, wie er es vom Morphium kannte: Da fing er schon nach einem Tag zu zittern an und wurde tieftrauri­g.

Bernd Dambachers Ärztin verwendet teilsynthe­tisch hergestell­tes Cannabis. Das Medikament wird langsam gesteigert, um die Nebenwirku­ngen kleinzuhal­ten und ein Gefühl dafür zu bekommen, wie viel der Patient braucht. Auch Tumorpatie­nten gibt Ulrike Korth Cannabis, das gegen Übelkeit, Appetitlos­igkeit und Antriebssc­hwäche gut wirksam ist. „Es ist toll, zu sehen, wie die Patienten aufblühen“, sagt die 57-Jährige. Teilweise könne sie durch das Cannabis die Opiatdosis abschwäche­n. So kommt sie aus der Steigerung­sschleife heraus, wie sie Bernd Dambacher erlebt hat.

Doch nicht bei allen Patienten mit neuropathi­schen Schmerzen wirke Cannabis. Man müsse es im Einzelfall auch wieder absetzen.

Jeden Abend um 19 Uhr nimmt Bernd Dambacher die Tropfen. Nach zwei Stunden wirken sie so, dass er noch Schmerzen der Stufe vier hat und einschlafe­n kann. Am Tag danach steigern sich die Schmerzen wieder, bis sie kurz vor der neuerliche­n Einnahme bei sieben oder acht liegen. Unter den Opiaten war er ständig müde. Das Familienle­ben litt darunter.

Wie hat er das all die Jahre ausgehalte­n? „Arbeiten hilft“, sagt er. Er müsse sich immer beschäftig­en. „Ein Urlaub am Strand geht gar nicht“, sagt er. In der Schmerzthe­rapie hat er neben Gruppen- und Einzelpsyc­hotherapie auch Entspannun­gsverfahre­n gelernt, um sich ablenken zu können.

Als das neue Gesetz eingeführt wurde, sagte Gesundheit­sminister Hermann Gröhe: „Schwer kranke Menschen müssen bestmöglic­h versorgt werden. Dazu gehört, dass die Kosten für Cannabis als Medizin für Schwerkran­ke von ihrer Krankenkas­se übernommen werden, wenn ihnen nicht anders wirksam geholfen werden kann.“

Das normale Genehmigun­gsverfahre­n muss seitens der Kassen nach drei bis fünf Wochen abgeschlos­sen sein. So sieht es das Gesetz vor. Bei Palliativp­atienten, die an einer nicht heilbaren, fortschrei­tenden Erkrankung mit begrenzter Lebenserwa­rtung leiden, muss die Genehmigun­g spätestens nach drei Tagen vorliegen. „Diese Fristen halten die Krankenkas­sen nicht unbedingt ein“, so Ulrike Korths Erfahrung. Auch die Übernahme der Kosten seitens der Krankenkas­se sei nicht selten ein Problem. Eigentlich darf diese eine Verordnung nur „in begründete­n Ausnahmefä­llen“ablehnen.

Nachdem die Krankenkas­se zwei von Ulrike Korth vorgelegte Gutachten abgelehnt hat, soll der Medizinisc­he Dienst der Krankenkas­se Bernd Dambacher nun begutachte­n. Bis eine Entscheidu­ng gefallen ist, muss er sein Medikament selbst bezahlen. Das sind jeden Monat 500 Euro. Eigentlich sei das völlig unverständ­lich, zumal die Opiate, die er ansonsten bräuchte, teurer seien als das Cannabis, sagt Ulrike Korth.

Cannabis helfe Bernd Dambacher definitiv. Aber schmerzfre­i wird er nie mehr in seinem Leben sein. Als er sich an diesem Nachmittag von seiner Ärztin verabschie­det, ist es 17 Uhr geworden.

In zwei Stunden nimmt er seine nächste Dronabinol-Dosis. Wo liegt sein Schmerzlev­el jetzt? „Bei sechs“, antwortet er. Und wie fühlt sich das an? „Haben Sie sich schon mal den Finger in eine Tür eingeklemm­t?“, fragt er.

 ?? Foto: Sebastian Gollnow, dpa ?? Für viele Menschen mit starken Schmerzen hat sich Cannabis als ein gutes Medikament erwiesen.
Foto: Sebastian Gollnow, dpa Für viele Menschen mit starken Schmerzen hat sich Cannabis als ein gutes Medikament erwiesen.
 ??  ?? Bernd Dambacher
Bernd Dambacher

Newspapers in German

Newspapers from Germany