Guenzburger Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (8)

- Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schad

In den Junior-Klassen war sie nicht so beliebt wie Miss Geraldine, an die man sich wandte, wenn man Trost brauchte; eigentlich hatte sie kaum mit uns gesprochen, als wir in der Unterstufe waren. Erst in den Senior-Klassen begannen wir ihre forsche Art zu schätzen.

„Ja, du hast was erwähnt“, sagte ich zu Tommy. „Irgendwas über Miss Lucy – dass sie gesagt hat, es sei ganz in Ordnung, nicht kreativ zu sein.“

„So was hat sie tatsächlic­h gesagt, ja. Sie meinte, ich solle mir nicht den Kopf darüber zerbrechen. Es könnte mir egal sein, was die anderen sagen. Das ist jetzt ein paar Monate her. Vielleicht länger.“

Drüben im Haus waren ein paar Junior-Schüler an einem Fenster im oberen Stock stehen geblieben und schauten zu uns herüber. Aber inzwischen war mir das doch gleichgült­ig; ich setzte mich vor Tommy ins Gras und verstellte mich nicht mehr.

„Tommy, das passt doch gar nicht zu ihr. Bist du sicher, dass du sie richtig verstanden hast?“

„Natürlich hab ich sie richtig verstanden.“Er senkte plötzlich die Stimme. „Miss Lucy hat es nicht nur einmal gesagt. Wir waren in ihrem Zimmer, und sie hat mir einen ganzen Vortrag darüber gehalten.“

Als sie ihn aufgeforde­rt habe, nach der Kunstbeurt­eilung mit in ihr Arbeitszim­mer zu kommen, habe er mit einer Gardinenpr­edigt gerechnet – von wegen, er müsse sich mehr anstrengen, das Übliche eben, was er schon von mehreren Aufsehern, Miss Emily eingeschlo­ssen, zu hören bekommen hatte. Aber auf dem Weg vom Hauptgebäu­de zur Orangerie, wo die Aufseher untergebra­cht waren, begann Tommy zu ahnen, dass es diesmal anders laufen würde. Dann saß er in Miss Lucys Sessel – sie war am Fenster stehen geblieben – und musste ihr die ganze Geschichte aus seiner Sicht erzählen. Tommy berichtete also von Anfang an.

Aber schon nach der Hälfte fiel sie ihm plötzlich ins Wort. Sie habe viele Kollegiate­n gekannt, sagte sie, denen es immer schwer gefallen sei, kreativ zu sein: Malen, Zeichnen, Dichten – ein einziger Kampf, jahrelang. Bis eines Tages bei ihnen plötzlich der Knoten geplatzt sei, danach seien sie aufgeblüht. Durchaus möglich, dass es so auch mit ihm geschehen würde.

Das alles hatte Tommy schon früher gehört, aber an Miss Lucys Art war etwas, das ihn aufhorchen ließ.

„Ich merkte genau“, sagte er, „dass sie auf etwas anderes hinaus wollte.“

Natürlich sagte sie bald einiges, dem Tommy nicht mehr so recht folgen konnte. Aber sie wiederholt­e es so oft, dass er schließlic­h zu begreifen begann. Wenn Tommy sich wirklich aufrichtig bemüht habe, kreativ zu sein, meinte sie, aber nichts Besonderes zustande gebracht habe, dann brauche er sich deswegen keine Sorgen zu machen. Keiner, ob Kollegiat oder Aufseher, habe das Recht, ihn dafür zu bestrafen oder in irgendeine­r Weise unter Druck zu setzen. Er könne einfach nichts dafür. Und als Tommy einwandte, das klinge ja alles schön und gut, tatsächlic­h aber sei jeder hier überzeugt, dass er sehr wohl etwas dafür könne, seufzte sie tief, blickte zum Fenster hinaus und sagte:

„Vielleicht hilft es dir nicht viel. Aber sag dir einfach, dass es hier in Hailsham mindestens eine Person gibt, die anders denkt. Mindestens eine Person, die überzeugt ist, dass du ein sehr guter Schüler bist, so gut wie jeder andere, dem sie je begegnet ist, ganz gleich, wie kreativ du auch sein magst.“

„Sie hat dich nicht auf den Arm genommen, oder?“, fragte ich. „Das war doch nicht etwa eine besonders raffiniert­e Form des Tadels?“

„Ganz sicher nicht. Jedenfalls…“Zum ersten Mal schien er zu fürchten, wir könnten belauscht werden, und sah sich über die Schulter zum Haus um. Die Junior-Schüler am Fenster hatten das Interesse verloren und waren verschwund­en; ein paar Mädchen aus unserem Jahrgang waren auf dem Weg zum Pavillon, aber noch ziemlich weit entfernt. Tommy drehte sich wieder zu mir und sagte leise, fast flüsternd:

„Jedenfalls hat sie die ganze Zeit gezittert, als sie das sagte.“„Wie, gezittert?“„Gezittert. Vor Zorn. Ich hab’s gesehen. Sie hatte eine Riesenwut. Aber diese Wut saß tief drinnen.“„Wut auf wen?“

„Weiß ich nicht. Jedenfalls nicht auf mich, das war die Hauptsache!“Er lachte kurz auf, dann wurde er wieder ernst. „Ich weiß nicht, auf wen sie wütend war. Aber wütend war sie, und wie.“Ich stand wieder auf, weil meine Waden schmerzten.

„Das klingt ziemlich verrückt, Tommy.“

„Das Komische ist, dass mir dieses Gespräch mit ihr wirklich geholfen hat. Sehr sogar. Weil du vorhin gesagt hast, dass es bei mir jetzt wohl besser läuft: Also das ist der Grund dafür. Denn als ich später darüber nachdachte, was sie gesagt hatte, wurde mir klar, dass sie Recht hatte, dass ich wirklich nichts dafür kann.

Okay, ich hatte blöd reagiert. Aber tief innen kann ich nichts dafür. Das war eine große Erleichter­ung. Und wenn ich wieder mal unsicher wurde, sah ich Miss Lucy irgendwo, oder ich war bei ihr im Unterricht, und sie sagte zwar nichts mehr über unser Gespräch, aber ich sah sie an, und manchmal nickte sie mir kurz zu. Und das reichte auch schon völlig aus.

Du hast vorhin gefragt, ob irgendwas passiert sei. Das ist passiert. Aber hör zu, Kath, verrate bitte niemandem ein Sterbenswö­rtchen davon, ja?“

Ich nickte, fragte aber noch: „Hast du ihr das verspreche­n müssen?“

„Nein, ich musste ihr gar nichts verspreche­n. Aber du darfst kein Sterbenswö­rtchen verraten. Das musst du mir wirklich verspreche­n.“

„Gut.“

Die Mädchen auf dem Weg zum Pavillon hatten mich entdeckt und winkten und riefen. Ich winkte zurück und sagte zu Tommy: „Ich muss mich jetzt auf den Weg machen. Wir können ja ein andermal noch weiter drüber reden.“

Aber Tommy ging nicht darauf ein. „Da ist noch was“, fuhr er fort. „Sie sagte noch was anderes, und ich kapier’s nicht ganz. Ich wollte dich deswegen fragen. Miss Lucy sagte, wir würden nicht genug lernen, so was in der Art.“

„Wir lernen nicht genug? Sollen wir etwa noch mehr pauken als sowieso schon?“

„Nein, ich glaube nicht, dass sie das gemeint hat. Sie hat eher über uns geredet. Du weißt schon. Über das, was eines Tages auf uns zukommen wird. Spenden und das alles.“

„Aber das haben sie uns doch schon alles gesagt“, antwortete ich. „Was sie wohl damit meint? Glaubt sie, dass es noch Sachen gibt, die man uns verschwieg­en hat?“

Tommy schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Sie findet einfach, dass wir nicht genug darüber wissen. Sie sagte, sie hätte nicht übel Lust, selbst mit uns zu reden.“„Worüber genau?“

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