Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (9)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht hab ich auch alles falsch verstanden, Kath, ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie was ganz anderes gemeint, noch was im Zusammenhang damit, dass ich nicht kreativ bin. Ich versteh’s wirklich nicht.“
Tommy sah mich an, als erwartete er die Lösung des Rätsels von mir. Ich dachte ein paar Sekunden nach, bevor ich sagte:
„Tommy, versuch dich genau zu erinnern. Du sagst, sie sei wütend geworden…“
„Na ja, es sah so aus. Äußerlich war sie ruhig, aber sie hat gezittert.“
„Also gut, wie auch immer. Sagen wir, sie ist wütend geworden. War sie schon wütend, als sie mit diesen anderen Sachen angefangen hat? Dass wir nicht genug erfahren über die Spenden und alles andere?“„Ich glaube schon…“„Denk genau nach, Tommy. Warum hat sie davon angefangen? Sie redet über dich und darüber, dass du nicht kreativ bist. Dann fängt sie plötzlich von etwas anderem an. Wo ist der Zusammenhang? Warum bringt sie auf einmal die Spenden ins Spiel? Was hat das mit deiner fehlenden Kreativität zu tun?“
„Ich weiß es nicht. Es muss wohl irgendeinen Grund geben. Vielleicht hat das eine sie an das andere erinnert. Ach, Kath, so weit kommt’s noch, dass du dir jetzt auch den Kopf zermarterst.“
Ich lachte, weil es stimmte: Ich dachte angestrengt nach, und sicher hatte ich die Stirn gerunzelt. Tatsache war, dass meine Gedanken gleichzeitig in verschiedene Richtungen strebten. Und Tommys Bericht über sein Gespräch mit Miss Lucy hatte mich an eine ganze Serie kleinerer Zwischenfälle aus der Vergangenheit erinnert, die mit Miss Lucy zu tun hatten und über die ich mich damals gewundert hatte.
„Es ist nur…“Ich verstummte und seufzte. „Ich kann es nicht richtig ausdrücken, nicht mal in Gedanken. Aber alles, was du sagst, passt irgendwie zu vielen Dingen, die eigentlich unverständlich sind. Lauter Fragen, über die ich immer wieder nachdenken muss. Zum Beispiel: Warum Madame kommt und unsere besten Bilder holt. Wozu eigentlich?“
„Für die Galerie.“
„Aber was ist ihre Galerie? Dauernd kommt sie und nimmt unsere besten Arbeiten mit. Sie muss ja schon Berge davon haben. Einmal habe ich Miss Geraldine gefragt, seit wann Madame das schon so handhabt, und sie sagte, seitdem es Hailsham gibt. Was ist diese Galerie? Warum bewahrt sie die Sachen auf, die wir gemacht haben?“
„Vielleicht verkauft Madame unsere Arbeiten. Da draußen verkaufen sie doch alles.“
Ich schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein. Es muss irgendwas mit dem zu tun haben, was Miss Lucy zu dir gesagt hat. Über uns, darüber, dass wir eines Tages mit dem Spenden anfangen müssen. Ich weiß nicht, warum, doch ich habe jetzt schon seit einer ganzen Weile das Gefühl, dass das alles miteinander verknüpft ist, aber ich weiß nicht, wie. Jetzt muss ich aber wirklich gehen, Tommy. Verraten wir niemandem, was wir hier besprochen haben.“
„Nein. Und du sagst niemandem was von Miss Lucy.“
„Aber erzählst du’s mir, wenn sie wieder irgendwas in der Art zu dir sagt?“Tommy nickte, dann blickte er sich noch einmal um. „Ich glaub’ auch, dass du jetzt besser gehen solltest, Kath. Sonst hört uns am Ende noch jemand.“
Die Galerie, über die Tommy und ich gesprochen hatten, war eine feste Größe, mit der wir alle aufgewachsen waren. Jeder redete darüber, als existierte sie, dabei wusste keiner, ob es sie wirklich gab. Ich bin sicher, dass es den meisten so ging wie mir: Wir konnten uns nicht erinnern, wann oder in welchem Zusammenhang wir zum ersten Mal davon gehört hatten. Sicher nicht von den Aufsehern, so viel stand fest: Sie erwähnten die Galerie mit keinem Wort, und es galt die unausgesprochene Regel, dass in Anwesenheit eines Aufsehers das Thema nicht zur Sprache kam.
Heute glaube ich, dass die Galerie etwas war, das eine Generation von Hailsham-Kollegiaten an die nächste weitergab. Ich erinnere mich, wie ich einmal – ich kann höchstens fünf oder sechs gewesen sein – neben Amanda C. an einem niedrigen Tisch saß, die Hände klamm und verkrustet vom Ton, den wir modellierten. Ich weiß nicht mehr, ob andere Kinder dabei waren und welcher Aufseher Dienst hatte. Ich weiß nur noch, dass Amanda C., die ein Jahr älter war als ich, mein Werk betrachtete und ausrief: „Das ist aber sehr gut, Kathy! Wunderschön! Das kommt bestimmt in die Galerie!“
Und ich muss schon damals von der Galerie gewusst haben, denn ich erinnere mich noch, wie stolz und aufgeregt mich Amandas Lob machte – und dass ich im nächsten Moment dachte: Das kann nicht sein. Keiner von uns ist jetzt schon gut genug für die Galerie.
Auch als wir älter wurden, blieb die Galerie ein ständig wiederkehrendes Thema. Es war die höchste Anerkennung, die man für eine Arbeit erhalten konnte, wenn es hieß: „Das ist gut genug für die Galerie.“Und nachdem wir ein Gespür für Ironie entwickelt hatten, hieß es über jedes lächerlich schlechte Stück: „O ja! Schnell in die Galerie damit!“
Aber glaubten wir wirklich an ihre Existenz? Heute bin ich mir nicht mehr sicher. Wie gesagt, wir erwähnten sie nie vor den Aufsehern, und im Rückblick scheint mir, dass nicht nur die Aufseher, sondern auch wir selbst uns diese Regel auferlegt hatten.
Ich erinnere mich an einen Fall aus der Zeit, als ich etwa elf Jahre alt war. Wir waren in Zimmer 7, es war ein sonniger Wintermorgen, Mr. Rogers hatte seinen Unterricht beendet, und einige von uns harrten aus, um mit ihm zu plaudern. Wir saßen auf unseren Schreibtischen, und ich weiß nicht mehr, worüber wir redeten, aber Mr. Roger brachte uns wie immer schrecklich zum Lachen. Irgendwann stieß Carole H. kichernd hervor:
„Damit kämen Sie sogar in die Galerie!“Gleich darauf schlug sie sich mit einem „Hoppla!“die Hand vor den Mund, und die Stimmung blieb zwar vergnügt, aber wir alle, Mr. Roger eingeschlossen, wussten, dass ihr ein Schnitzer unterlaufen war.
Es war keine Katastrophe; aber doch so, als wäre einem von uns ein schlimmes Wort entschlüpft oder als hätte jemand in Anwesenheit eines Aufsehers dessen Spitznamen gebraucht. Mr. Roger lächelte nachsichtig, wie um zu sagen:
„Reden wir nicht davon, tun wir so, als wäre nichts passiert“, und wir gingen einfach darüber hinweg.
Wenn die Galerie für uns auch in einem Schattenreich verharrte, blieb doch die unverrückbare Tatsache, dass Madame in der Regel zwei-, manchmal auch drei- oder viermal im Jahr auftauchte, um sich unsere besten Arbeiten auszusuchen.
Wir nannten sie „Madame“, weil sie Französin oder Belgierin war – darüber herrschte Uneinigkeit – und weil die Aufseher sie immer so nannten. » 10. Fortsetzung folgt