Trauermusik erfahrbar gemacht
Beerdigungsmusik von Distler und Schütz war tonangebend beim Konzert des Vocal Ensembles Hochwang in der Günzburger Auferstehungskirche. Natürlich durfte auch Bach nicht fehlen
Günzburg In die Musikgeschichte ging er als „bedeutendster Erneuerer der evangelischen Kirchenmusik nach 1920“ein. Heute ist der Komponist, Organist und Chorleiter Hugo Distler (1908-1942) nahezu völlig im Archivstaub des Vergessens verschwunden, sein Repertoire steht zur Wiederentdeckung an. Gebrandmarkt als „entartet“war er gnadenlos nationalsozialistischen Zwangsutopien ausgesetzt und schied mit 34 Jahren notgedrungen freiwillig aus dem Leben. Im Alter von 26 Jahren schrieb er mit der Chorballade „Totentanz“, für vierstimmigen Chor a cappella und Sprecher, zweifelsohne eines seiner eigenwilligsten Werke.
Der Tod lädt ein zum Tanze. Mit 14 gesungenen Kurzmotetten, einer Nachdichtung des Lübecker Totentanzes. Distler fügte sie zu einer kompositorischen Einheit aus aphoristischer Kürze zusammen, brachte sie zu lebhafter Dramatik und impulsivem Leuchten, in einem ihm eigenen, neuartig rhythmisch-melodisch gelockerten, aus dem Wortduktus hergeleiteten, zeitgenössischen Chorstil. Jedem gesungenen „Spruch“folgt eine von Sprechern rezitierte Wortmotette in Reimform, als Dialog zwischen Tod und Mensch, vom König bis zum Kind. Eine Lebensabrechnung, manchmal tröstend, meistens drohend, doch immer endgültig. Dazwischengeschoben: stimmungsmalende Flötenweisen als Variationen des Liedes „Es ist ein Schnitter, heißt der Tod“, eindringlich, fordernd, tänzelnd. Multi-emotional. Immer wieder faszinierend, wie Verena Schwarz und ihr Vocal-Ensemble Unmittelbarkeit und Echtheit zum Klingen bringen. Wie sie sogar den nackten Gesanglinien in einem Totentanz, mit vokaler Bravour Beweglichkeit und Spannung verleihen, um nicht zu sagen Wirklichkeit und Lebensimpuls.
Mit solch einem brillanten Ensemble lässt sich natürlich trefflich Heinrich Schütz (1585-1672) musizieren. Der Dresdner Hofkapellmeister hatte es als Komponist nicht ganz einfach. Der Dreißigjährige Krieg raffte – im Namen der einzig wahren Religion – nahezu die Hälfte der Bevölkerung hinweg. Dem Schwund an Sängern und Instrumentalisten war allein durch Reduzierung der Besetzung zu begegnen. Damit hat man heute kein Problem mehr. Trotzdem entschloss sich das Hochwanger Vocal-Ensemble, eine der kunstvollsten Trauermusiken des 17. Jahrhunderts, die „Musikalischen Exequien“(Beerdigungsmesse), als chorisch opulente Vokalaufführung in Szene zu setzten, mit lediglich einem Orgelpositiv als Continuo. Schütz hat das Werk für die Beerdigung des Fürsten Heinrich von Reuss komponiert, mit dessen eigenem, zu Lebzeiten verfassten Text. Der ausgedehnte Motettensatz, den der Komponist als Vorstufe für ein „Deutsches Requiem“sah, gewinnt vor allem durch den Wechsel von Chor- und Solostimmen an packender Bewegtheit. Eine immense interpretatorische Herausforderung, von solistischer Einsatzfreudigkeit bis zu intimem Quartett- und chorisch pompösem TuttiRausch. Eine mal beklemmende, mal aufbrausende, aber immer vollkommene Ausgewogenheit zwischen rhetorischer Prägnanz und betörend meditativer Klangschönheit.
Der zweite Teil, eine Motette für zwei vierstimmige Chöre „Herr, wenn ich nur dich habe“, ist ein Stück erhaben feierlicher Klangprächtigkeit, und der dritte, ein geteilter, fünfstimmiger Chor, auf der Empore postiert, lässt das „Selig sind die Toten“auf subtiler Klangwolke, wie die erlöste Seele, seraphisch in Himmelshöhen entschweben. Geradezu übersinnlich emotionale Gesangslinien, die Tod und Trauer erfahrbar machen.
Ein lebendiger Hauch von Bach, acht Minuten lang etwa, wehte ebenfalls durch diesen Komplex aus Tod, Trauer und Sterbemythos. Zu danken dem Ulmer Organisten und Chorleiter Friedrich Fröschle, der, neben dem Continuo am Orgelpositiv, auf der großen Orgel die Finalfuge „Contrapunctus XIX“aus „Die Kunst der Fuge“zu Gehör brachte. Jenes Werk in Bachs Opus summum, in dem ihm der Tod die Feder aus der Hand nahm. Auf dessen Autograph sein Sohn Carl Philip Emanuel die Worte hinterließ „Über dieser Fuge, wo der Name B-A-C-H im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben“.
Fröschle ist ein Orgel-Interpret, befähigt, sein individuelles musikalisches Erleben und Erkennen unmittelbar an den Hörer weitergeben zu können. Unüberhörbar seine Fähigkeit, Bachs kontrapunktischen Herzschlag in interpretatorisches Erleben umzusetzen, das sich wiederum auf profundes Wissen um die Sache gründet. Die Fuge bricht, notengetreu, abrupt ab. Wäre ein Konzertende nach diesem Abbruch nicht der notwendige Moment kontemplativen Besinnens gewesen? Die gängige Praxis beschließt aber mit dem Choral „Vor Deinen Thron tret ich hiermit“.
Stehender Applaus. Nicht enden wollend.