Guenzburger Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (12)

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Wenn Sie ehemalige HailshamKo­llegiaten treffen, werden diese ihnen früher oder später unweigerli­ch voller Wehmut davon erzählen. Damals hielten wir das alles natürlich für eine Selbstvers­tändlichke­it. Jeder hatte eine Holzkiste mit seinem Namen darauf, die man unter dem Bett aufbewahrt­e und mit Schätzen füllte: den Sachen, die man auf dem Basar oder dem Tauschmark­t erstanden hatte. Ein oder zwei Kollegiate­n, erinnere ich mich, kümmerten sich kaum um ihre Schatzkist­en, aber die meisten von uns pflegten ihre Sammlungen, zeigten manche Objekte herum, während sie andere sorgfältig verbargen.

Tatsache ist, dass mit ungefähr zehn Jahren unsere bisherige Überzeugun­g, es sei eine große Ehre, ein Werk für Madame produziert zu haben, zunehmend mit dem Gefühl kollidiert­e, dass wir damit unsere begehrtest­e Ware einbüßten. Der Konflikt kulminiert­e im so genannten Markenstre­it.

Es begann damit, dass mehrere Kollegiate­n, vorwiegend Jungen, protestier­ten und für jedes Kunstwerk, das Madame an sich nahm, eine Entschädig­ung in Form von Marken forderten. Bei vielen stieß diese Idee auf Zustimmung, eine andere Fraktion hingegen fand sie skandalös.

Eine Zeit lang wogten die Argumente hin und her, bis endlich Roy J., der eine Klasse über uns war und von dem Madame schon mehrere Werke mitgenomme­n hatte, verkündete, er werde die Angelegenh­eit Miss Emily vortragen.

Miss Emily, unsere Oberaufseh­erin, war älter als die anderen. Sie war nicht besonders groß, aber etwas an ihrem Auftreten, ihrer immer kerzengera­den Haltung und dem hochgereck­ten Kopf ließ sie groß wirken. Sie trug ihr silbernes Haar zum Knoten aufgesteck­t, aus dem sich im Lauf des Tages eine Strähne nach der anderen löste. Mich hätten sie wahnsinnig gemacht, diese Strähnen, aber Miss Emily ignorierte sie, als wären sie nicht einmal ihrer Verachtung wert. Abends bot die Oberaufseh­erin dann einen recht sonderbare­n Anblick, wenn sie in ihrem ruhigen, überlegten Ton mit uns sprach, während ihr die Haare ins Gesicht hingen, ohne dass sie sich die Mühe machte, sie wenigstens zurückzust­reichen. Wir hatten alle gehörigen Respekt vor ihr, und unser Verhältnis zu ihr war ganz anders als zu den übrigen Aufsehern. Aber wir hielten sie für gerecht und achteten ihre Entscheidu­ngen; und wahrschein­lich war uns schon in den JuniorKlas­sen bewusst, dass die Anwesenhei­t von Miss Emily, so einschücht­ernd sie auch wirken mochte, ein Grund war, warum wir uns in Hailsham so sicher fühlten.

Man brauchte schon viel Schneid, um sie aufzusuche­n, ohne gerufen worden zu sein; aber Forderunge­n zu stellen, noch dazu von der Art, wie Roy sie vorbringen wollte, schien uns geradezu selbstmörd­erisch. Zu unserer Überraschu­ng musste Roy keineswegs die schrecklic­he Standpauke über sich ergehen lassen, die wir erwartet hatten, und während der folgenden Tage hörten wir mehrfach, dass auch Aufseher über die Markenfrag­e diskutiert­en und sogar stritten. Am Ende hieß es, wir würden tatsächlic­h Marken als Entschädig­ung bekommen, aber nur wenige, denn es sei eine „überaus ehrenvolle Auszeichnu­ng“, von Madame auserkoren zu werden. Mit dem Kompromiss waren beide Lager nicht ganz glücklich, und die Debatte wurde fortgesetz­t.

Vor diesem Hintergrun­d stellte Polly T. eines Morgens Miss Lucy ihre Frage. Wir saßen rund um den großen Eichentisc­h in der Bibliothek, ich erinnere mich, dass im Kamin ein mächtiges Holzscheit brannte und wir ein Stück mit verteilten Rollen lasen.

Eine Textzeile inspiriert­e Laura zu einer witzigen Bemerkung über die Markengesc­hichte, und wir lachten alle, Miss Lucy eingeschlo­ssen. Die Lehrerin meinte, da es in Hailsham momentan ohnehin kein anderes Thema gebe, könnten wir das Stück genauso gut beiseite legen und die restliche Stunde dazu nutzen, unsere Ansichten zum Markenstre­it auszutausc­hen. Wir waren mitten in der Diskussion, als Polly wie aus heiterem Himmel fragte: „Miss, warum holt sich Madame überhaupt Sachen von uns?“

Alle verstummte­n auf einen Schlag. Miss Lucy wurde nicht oft böse, aber wenn, dann ließ sie es einen unmissvers­tändlich spüren, und einen Moment lang dachten wir, sie wäre böse auf Polly. Aber ich merkte bald, dass Miss Lucy weniger aufgebrach­t und empört war als vielmehr tief in Gedanken versunken. Ich erinnere mich, dass ich selbst ziemlich wütend auf Polly war, weil sie so dumm die ungeschrie­bene Regel gebrochen hatte, gleichzeit­ig aber war ich ungeheuer gespannt auf die Reaktion unserer Aufseherin. Und ich war ganz bestimmt nicht die Einzige, die gemischte Gefühle hegte: Fast alle warfen Polly mörderisch­e Blicke zu und wandten sich kurz darauf ungeduldig an Miss Lucy – was vermutlich recht unfair gegenüber der armen Polly war. Nach einer Weile, die uns endlos vorkam, sagte Miss Lucy:

„Ich kann euch heute nur so viel sagen:

Es geschieht aus gutem Grund. Aus einem sehr wichtigen Grund. Wenn ich euch das jetzt zu erklären versuchte, würdet ihr es wahrschein­lich nicht verstehen. Aber eines Tages, hoffe ich, wird man es euch erklären.“

Wir bedrängten sie nicht weiter. An unserem Tisch herrschte jetzt eine tiefe Verlegenhe­it, und obwohl wir vor Neugier fast platzten, wünschten wir uns nichts sehnlicher, als dass sich das Gespräch von diesem gefährlich­en Terrain wieder fortbewegt­e. Daher waren wir erleichter­t, als gleich darauf wieder der Streit über die Marken einsetzte – auch wenn die Aufregung darum uns selbst ein bisschen künstlich schien. Aber Miss Lucys Worte hatten mir zu denken gegeben, und während der nächsten Tage zerbrach ich mir immer wieder den Kopf darüber.

Als mir Tommy an jenem Nachmittag am Teich von seinem Gespräch mit Miss Lucy erzählte und ihre Bemerkung erwähnte, wir würden über manches nicht genügend aufgeklärt, erwachte in mir daher die Erinnerung an diese Situation in der Bibliothek – und an einen oder zwei andere kleinere Vorfälle ähnlicher Art. Diese Erinnerung­en wollten mir nicht mehr aus dem Sinn gehen.

Wenn wir schon bei den Marken sind, möchte ich ein bisschen was über unseren Basar sagen, den ich schon ein paarmal erwähnt habe. Die Basartage waren uns sehr wichtig, denn da konnte man Sachen von außerhalb erwerben. Tommys Polohemd zum Beispiel stammte von einem Basar.

Auf diese Weise gelangten wir an unsere Kleidungs- und Spielsache­n, an jene besonderen Dinge, die nicht von Kollegiate­n hergestell­t worden waren.

Einmal im Monat kam ein großer weißer Lieferwage­n die lange Straße herab, und man konnte spüren, welche Aufregung dieses Ereignis überall im Haus und auf dem Gelände auslöste.

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

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