Rossinis letzte „Alterssünde“
Die Orchesterfassung der Petite Messe Solenelle wurde in der Günzburger Heilig Geist Kirche zur Kleinen Messe im Großformat
Günzburg Angeblich hätte er ja Kastrat werden sollen. Zumindest in der Wunschvorstellung eines Metzgers, der sein Onkel war. Doch Gioachino Rossini (1792-1862) verweigerte sich dem Messerchen, wurde lieber Komponist. Erfolgreich, weltberühmt und wohlhabend. Nach seiner 39. Oper („Wilhelm Tell“) hängte er allerdings seinen einträglichen Bühnen-Job an den Nagel, wurde, mittels steiler Karriere als Hobbykoch und Rezeptbuchautor, zum einfallsreichen Kalorienmelodiker.
Bis dann mehr als dreißig Jahre später – der Italiener und Wahlfranzose war bereits 71 – ein begüterter Adeliger daherkam und dem Künstler in Rente den Auftrag schmackhaft machte, als quasi „letzte Alterssünde“, eine Messe zu komponieren. Heraus kam dabei die „Petite Messe Solennelle“(Kleine feierliche Messe). Klein? Feierlich? Letzteres ja, denn Rossini wollte seine opernund kantilenenhafte Handschrift keinesfalls allein Schwermutstränen weihrauchiger Schuld- und Sühne- opfern. Doch klein? Mit gut eineinhalbstündiger Aufführungsdauer? Die Besetzung – vier Solostimmen, Doppelquartett und lediglich drei Instrumente (zwei Klaviere, ein Harmonium) – rechtfertigt, als Kammermusikversion, die Bezeichnung „klein“durchaus. Doch drei Jahre später, um zu verhindern, dass andere ihm mit Saxofonen und Großorchestersound zuvorkommen würden, rüstete er sein Werk zur opulent-spektakulären Orchestermesse mit großem Chor hoch. Aufzuführen erst nach seinem Tod, da er nach wie vor sein ursprüngliches Werk favorisierte. Beide Fassungen waren nicht zu liturgischen Zwecken, sondern für den Konzertsaal bestimmt. Rossini hatte Frauenstimmen mit einkomponiert, und die waren, laut päpstlichem Dogma, seinerzeit aus Kirchen verbannt.
Heilig-Geist Kirchenmusiker Wolfram Seitz und sein Chor wartete vor zwei Jahren schon mit der bejubelten Urfassung der Rossinimesse auf. Zu den diesjährigen Orgeltagen also das Gegenprogramm zu Kammermusik und in heitere Trau- rigkeit gekleidete Klangschonkost klavierbezogener Tongebung. Also die vollorchestrierte und großchorische Überwältigungs-Variante, als sakraler Gourmet-Trip im Sog belcantischer Klangkulinarik. „Dissonanzen, aber auch ein wenig Zucker“mischte der Komponist nach eigenen Worten seinem Werk bei. Und mutmaßte: „Keine Kirchenmusik für euch Deutsche!“, weil für das germanisch-klerikale Reinheitsgebot zu koloristisch, zu hingezärtelt, zu un-bachhaft.
Wirklich? Dabei stürzt sich der schlitzohrige Alterssünder im „Cum Sancto Spirito“, im absteigenden Auferstehungsjubel des „et vitam venturi“, oder den Forteausbrüchen des Hosanna, in eine virtuos kontrapunktische Weltschmerzfülle, über die selbst ein Bach anerkennend gelächelt hätte. Opulenter, impulsiver, schwelgerischer Chorgesang, beseelte, strahlkräftige, funkenflammend vokale Powernummern in sängerischer Hochform.
Wolfram Seitz bremst orchestral virtuoses Blendwerk konsequent aus, obwohl die Camerata Ulm, routiniert und eifrig vorwärts stürhaftigkeit mend, immer wieder tonale Vorherrschaft zur Schau stellt. Er besteht auf individueller Farbgebung, auf vitaler Klanglichkeit, die italienisches Flair mit sakraler Innerlichkeit und flammenden Gefühlsausbruch mit sinnfälliger Ergriffenheit verbinden. Ihm zur Seite ein potentes Solistenquartett, das mit stimmlicher Opulenz und belcantischem Erweckungsdrang aufwartet: Benedikt Bader mit heldentenorischem Drive im „Domine Deo“. Stimmlich gediegen verkündet Bassbariton Matthias Lika die Friedensbotschaft „et in terra pax“.
Schmerzlich leuchtende Melodiebögen webt Altistin Carmen Artaza in den Trauerrhythmus des „Agnus Dei“, in den ergreifenden Wechselgesang mit dem chorischen „dona nobis“, und Susanne Steinle übertupft Rossinis wunderbare Alterssünde, im herzbewegend innigen „Cruzifixus“, im beseelt hymnischen „O solutaris“, mit jenem sopranistisch subtilen Schmeichelfaktor, der erhabene Trostlosigkeit zum Leuchten bringt.
Sakrale Musik, die fröhlich stimmt.