Guenzburger Zeitung

„Menschen starren idiotisch in ihre Smartphone­s“

Der Philosoph Peter Sloterdijk beklagt, dass US-Konzerne wie Google und Apple eine Vereinheit­lichung der Denk-, Arbeits- und Schreibver­hältnisse bewirken. Der Denker befürchtet, dass am Ende die Handschrif­t stirbt

- Asozial? Interview: Stefan Stahl

Augsburg Mitte November ist es plötzlich warm in Augsburg. Peter Sloterdijk trägt ein Poloshirt und öffnet im Rathaus die Fenster eines Fürstenzim­mers. Die Funkmaus seines Laptops hat den Geist aufgegeben. Der Philosoph ist froh, dass ihm eine neue gebracht wird. Vor nicht allzu langer Zeit hatte der 70-Jährige eine Zahn-OP. Er bekam neue Implantate. Zur Sicherheit nimmt er eine Schmerztab­lette und frotzelt: „Man sagt ja, das Implantat überlebt seinen Träger.“Sloterdijk hält nach dem Interview mit unserer Zeitung einen Vortrag im Goldenen Saal zum Thema „Arbeit 4.0“. Es geht um Digitalisi­erung. Der Denker bittet – durchaus ironisch –, ihn nicht zu sehr zu fordern, schließlic­h müsse er noch eine Rede halten.

Einer Ihrer berühmtest­en Sätze aus der 1983 erschienen­en „Kritik der zynischen Vernunft“lautet: „Seit einem Jahrhunder­t liegt die Philosophi­e im Sterben und kann es nicht, weil ihre Aufgabe nicht erfüllt ist.“Was müssen Philosophe­n heute leisten? Sloterdijk: Die Philosophi­e hat dasselbe zu leisten, was sie von Anfang an versproche­n hat, nämlich den Menschen so lange zu befragen, bis er über seine ganzen bisherigen Lebensverh­ältnisse unsicher wird. So kann der Mensch in die Lage kommen, sein Leben aus prinzipiel­len Gründen neu zu begründen. Somit ist Philosophi­e eine Übung der Skepsis. Und genau diese Arbeit ist nicht zu Ende geführt worden. Darauf spielt das Zitat aus der „Kritik der zynischen Vernunft“an.

Womit muss der Mensch rechnen, wenn er sich selbst infrage stellt? Sloterdijk: Zunächst einmal wird er auf eine produktive Weise asozial.

Sloterdijk: Ja, weil er mit den fertigen Antworten einer Gesellscha­ft nicht mehr leben kann. Es folgt ein Rückzug.

So ein Rückzug kann Erkenntnis bringen. Sie gehen aber immer wieder in die Öffentlich­keit und nannten sich einen „Lehrer, der beim lauten Denken in Fahrt kommt und andere mitnimmt“. Das klingt leidenscha­ftlich. Sloterdijk: Ich habe immer zu der Ansicht geneigt, dass das Denken keine Tätigkeit auf eigene Faust ist. Denken ist keine bloße Bastelei, kein Monolog und keine sinnlose Raserei eines fiebrigen Gehirns, sondern Denken gründet auf dem Umgang mit richtig gestellten Aufgaben.

Lässt sich das durch ein Beispiel verdeutlic­hen?

Sloterdijk: Das ist wie im Märchen „Frau Holle“, als das gute Mädchen zu einem Backofen kam, der voller Brot war, das Brot aber rief: „Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich: Ich bin längst ausgebacke­n.“Das tat das Mädchen. Mit dieser Episode verhält es sich wie mit dem Denken. Es wird eine Aufgabe gestellt und die wird angenommen. Dagegen ist das Ausrechnen

von mathematis­chen Gleichunge­n auf einem Blatt Papier kein Denken.

Denken fördert Skepsis und kann einem die Zuversicht rauben. Sie haben mal gesagt, dass Sie sich auf dem zweiten Bildungswe­g von einem natürliche­n Pessimiste­n zu einem künstliche­n Optimisten entwickelt haben. Wie optimistis­ch sind Sie für Deutschlan­d nach dem Aus für eine Jamaika-Regierung und dem nervösen Vorgeplänk­el für eine Große Koalition?

Sloterdijk: Das Scheitern einer Regierung ist kein Unglück. Unsere Nachbarn in Belgien sind eineinhalb Jahre ohne Regierung ausgekomme­n. Und es ist ja bekannt, wie gut die Wiener Philharmon­iker spielen, wenn kein Dirigent am Pult steht. Somit können die Deutschen beruhigt schlafen.

Ließe sich Deutschlan­d ohne Kanzlerin Merkel dirigieren?

Sloterdijk: Merkel legt ja ohnehin einen Regierungs­stil an den Tag, bei dem man nicht weiß, ob sie überhaupt etwas tut oder nicht. Kommt es dann doch zu Entscheidu­ngen, werden sie von ihr einsam ausgeführt, wie etwa die Öffnung der Grenzen für Flüchtling­e. Das war improvisie­rte Politik. In meinem Buch „Die schrecklic­hen Kinder der Neuzeit“habe ich beschriebe­n, wie seit der Französisc­hen Revolution die Improvisat­ion an die Macht gekommen ist. Auf alle Fälle wirkt Merkels Politik nicht in die Gesellscha­ft eingebette­t.

So skeptisch Sie die Kanzlerin sehen, sind Sie zumindest für Deutschlan­d zuversicht­lich?

Sloterdijk: Für Deutschlan­d als Ganzes natürlich. Wir dürfen günstige Erwartunge­n für das Land annehmen. Denn Deutschlan­d ist weltweit eine der führenden Maschinenb­au- der Überrollun­g preisgegeb­en.“Solche Aussagen irritieren viele, sieht sich der Philosoph doch als Linker.

● Sloterdijk hat mit 70 Jahren ein bun tes Leben hinter sich: Von 1978 bis 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 80er Jahren arbeitet der Kulturwis senschaftl­er als freier und enorm pro

Nationen. Und auf diesem Gebiet wird es in den kommenden Jahren zu einer stärkeren Nachfrage nach der deutschen Kernkompet­enz kommen. Gerade in der Feinmechan­ik ist Deutschlan­d führend. Deswegen glaube ich, dass uns noch einige produktive Jahrzehnte bevorstehe­n. Durch die Digitalisi­erung verändert sich natürlich unser Arbeitsleb­en.

Nach einer Studie der Oxford-Professore­n Frey und Osborne sind 47 Prozent der Arbeitsplä­tze in den USA durch die voranschre­itende Automatisi­erung gefährdet. Wie gefährlich ist diese Entwicklun­g?

Sloterdijk: Ich beobachte seit der industriel­len Revolution im späten 17. Jahrhunder­t, dass große Berufsgrup­pen – zunächst in der Landwirtsc­haft und später in einzelnen Industriez­weigen – immer wieder ihrer Arbeit beraubt wurden, weil man sie nicht mehr brauchte. Aber die Erfahrung zeigt: Wenn an einer duktiver Schriftste­ller. Seine 1983 er schienene „Kritik der zynischen Ver nunft“gehört zu den meistverka­uften philosophi­schen Büchern des 20. Jahr hunderts. Von 2001 bis 2015 war Sloterdijk Rektor der Staatliche­n Hoch schule für Gestaltung in Karlsruhe. Von 2002 bis 2012 war er der Gastgeber der ZDF Kultur Talkshow „Das philo sophische Quartett“. (sts)

Stelle die Nachfrage nach einer bestimmten Arbeit wegfällt, taucht an anderer Stelle die Nachfrage nach einer anderen Beschäftig­ung auf. Die Digitalisi­erung wird unsere Arbeitswel­t nicht bis zur Unkenntlic­hkeit verunstalt­en, auch wenn uns die gerade hierzuland­e gut gedeihende Sorgen-Industrie etwas anderes weismachen will.

Sie sind ein Philosoph, der politisch und ökonomisch denkt. So haben Sie auch das Thema Steuern im Blick. Wie sieht Ihr Konzept aus? Sloterdijk: Ich plädiere für eine völlige Neu-Interpreti­erung von Steuern. Nach der herrschend­en Auffassung werden Steuern als Schulden betrachtet, die der Bürger beim Staat hat. Das ist eine völlig falsche Interpreta­tion. Richtig ist vielmehr, dass alle Steuerzahl­er Sponsoren des Gemeinwese­ns sind. Wir brauchen also eine bürgerfreu­ndlichere Steuerpoli­tik, sonst bekommen wir eine freudlose, krakenarti­ge Fiskokrati­e, in der die Bürger gar nicht anders können, als sich dauernd zu überlegen, wie sie dem Staat Geld vorenthalt­en.

Wie soll dann der Staat konkret mit seinen Steuerbürg­ern umgehen? Sloterdijk: Er muss sie anders ansprechen, eben in der Sprache der Ehre und des Gemeinwohl­s. Wenn es eine Frage der Ehre ist, Steuern zu zahlen, werden Bürger bereitwill­iger Steuern zahlen, als wenn sie nur die Hand des Finanzmini­sters in ihrer Schatulle spüren. Seit Jahrhunder­ten verzeichne­n wir aber ein ausbeuteri­sches System der Steuerverw­altung. Das geht zurück bis in die Zeit des Steuerpäch­ters im 13. und 14. Jahrhunder­t. Er galt damals als Feind der Menschheit.

Gibt es Steuer-Vorbilder für unser Land?

Sloterdijk: Weltweit gibt es vor allem Zwangs-Fiskokrati­en. Die einzige kleine Ausnahme ist die Schweiz. Hier kann von Kanton zu Kanton von den Bürgern über die Höhe der Besteuerun­g abgestimmt werden.

Amerika ist für Sie wohl kein Vorbild. Sie kritisiere­n den „digitalen Kolonialis­mus“der USA. Was heißt das genau?

Sloterdijk: Damit spiele ich auf eine von den USA ausgehende beispiello­se Vereinheit­lichung der Denk-, Arbeitsund Schreibver­hältnisse an. Denn wenige US-Firmen wie Google, Apple oder Microsoft legen die Standards fest. So geht das Gutenberg-Zeitalter mit seinem reichen Fundus an unterschie­dlichen Schrifttyp­en dem Ende entgegen. Was bleibt, ist eine grenzenlos­e Verarmung. Ich habe noch nie so viele Menschen gesehen, die idiotisch – wo immer sie sind – selbst beim Mittagesse­n auf ihre kleinen Smartphone­s schauen. Man kann in der Bahn nicht mehr fahren, ohne umgeben zu sein von Menschen, die in das kleine Rechteck hinein starren. Alle Berufszwei­ge arbeiten mit demselben Gerät. Man kann oft nicht mehr erkennen, wer welchen Beruf ausübt. Früher haben die Handwerker noch kunstvolle Schilder über ihre Läden gehängt.

Deutschlan­d stehen produktive Jahrzehnte bevor

Handschrif­t ist ein Freiheitsm­edium

Das klingt kulturpess­imistisch. Welche Folgen hat diese von den USA ausgehende weltweite Vereinheit­lichung? Sloterdijk: Die Handschrif­t stirbt aus. So werden in Skandinavi­en bereits voll digitalisi­erte Klassenzim­mer eingeführt. Die Kinder müssen nicht mehr die Handschrif­t lernen. In meinen Augen ist das ein großer Fehler. Denn die das Gedächtnis trainieren­de und formende Wirkung der Handschrif­t wird unterschät­zt. Die Handschrif­t ist ein Freiheitsm­edium ähnlich wie das Bargeld, das manche auch gerne abschaffen und durch das Bezahlen mit dem Smartphone ersetzen wollen.

 ?? Foto: Fred Schöllhorn ?? Der Philosoph Peter Sloterdijk ist einer der bedeutends­ten lebenden deutschen Denker. Im Gespräch beklagt er, dass immer mehr Menschen nur noch in ihre Telefone starren, und erzählt, warum in der Politik die Improvisat­ion die Macht übernommen hat.
Foto: Fred Schöllhorn Der Philosoph Peter Sloterdijk ist einer der bedeutends­ten lebenden deutschen Denker. Im Gespräch beklagt er, dass immer mehr Menschen nur noch in ihre Telefone starren, und erzählt, warum in der Politik die Improvisat­ion die Macht übernommen hat.

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