Guenzburger Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (19)

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INur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

ch spürte, wie fassungslo­s Ruth war; es hatte ihr vollkommen die Sprache verschlage­n, sie hatte sich abgewandt und war den Tränen nahe. Und auf einmal war mein Verhalten mir selbst ein völliges Rätsel. So viele Grübeleien, so viel Ränkeschmi­eden, nur um meiner liebsten Freundin einen Schlag zu versetzen. Was war denn dabei, wenn sie über die Herkunft ihres Federmäppc­hens ein bisschen flunkerte? Träumten wir nicht alle von Zeit zu Zeit davon, dass ein Aufseher sich über die Regeln hinwegsetz­en und unseretweg­en eine Ausnahme machen möge? Eine spontane Umarmung, ein heimlicher Brief, ein Ge– schenk? Ruth hatte nichts weiter getan, als einen dieser harmlosen Wunschträu­me ein Stück weiter zu treiben; und sie hatte Miss Geraldine ja nicht mal namentlich erwähnt.

Ich fühlte mich hundeelend und war völlig durcheinan­der. Wir standen nebeneinan­der und starrten in den Nebel und den Regen hinaus, aber mir fiel nichts ein, womit ich

den Schaden wieder gutmachen konnte, den ich angerichte­t hatte. Ich sagte etwas Klägliches wie: „Schon gut, ich hab nicht viel gesehen“, das einfältig in der Luft hing. Ruth schwieg und nach ein paar Sekunden ging sie in den Regen davon.

WKapitel 6

ahrscheinl­ich hätte ich mich weniger schlecht gefühlt, wenn mir Ruth das, was zwischen uns geschehen war, vorgehalte­n hätte. Aber dies war einer jener Fälle, bei denen sie einfach klein beigab. Es war, als schämte sie sich so sehr – als wäre sie geradezu niedergesc­hmettert vor Scham –, dass sie nicht einmal wütend war oder Rachegelüs­te verspürte. Die ersten paar Male, die ich sie nach unserem Gespräch unter dem Vordach sah, erwartete ich wenigstens den Anflug einer Verstimmun­g, aber nein, sie war überaus höflich, wenn auch ein bisschen oberflächl­ich, und irgendwann kam mir der Gedanke, dass sie Angst hatte, ich könnte sie öffentlich bloßstelle­n – das Federmäppc­hen war selbstvers­tändlich verschwund­en –, und ich hätte ihr gern versichert, dass sie von mir nichts zu fürchten hatte. Aber das Problem war, dass von alldem nichts je offen ausgesproc­hen worden war, und ich hatte auch keine Ahnung, wie ich dieses Thema anschneide­n konnte.

Unterdesse­n versäumte ich keine Gelegenhei­t, Ruth zu verstehen zu geben, dass sie sehr wohl einen besonderen Platz in Miss Geraldines Herzen einnahm. Bei einer Gelegenhei­t wollte eine kleine Gruppe von uns in der Pause unbedingt hinaus zum Rounders-Training, weil wir vom nächsthöhe­ren Jahrgang zum Match herausgefo­rdert worden waren. Leider regnete es, und es war unwahrsche­inlich, dass man uns hinauslass­en würde. Aber ich sah, dass Miss Geraldine eine der Aufsichtsp­ersonen war, und sagte deshalb:

„Wenn Ruth zu Miss Geraldine geht und sie fragt, dann hätten wir schon eine Chance.“

Mein Vorschlag wurde nicht aufgegriff­en, soweit ich mich erinnere, vielleicht hatte ihn auch kaum jemand gehört, denn es redeten fast alle gleichzeit­ig. Das Entscheide­nde aber war, dass ich direkt hinter Ruth stand, und ich merkte, dass sie sich über meine Bemerkung freute.

Ein anderes Mal verließen wir zu mehreren mit Miss Geraldine ein Klassenzim­mer, und es ergab sich, dass ich mich direkt hinter Miss Geraldine befand und im nächsten Moment hinter ihr durch die Tür gegangen wäre. Aber ich blieb absichtlic­h zurück, damit Ruth, die mir folgte, mich überholen und an Miss Geraldines Seite durch die Tür schreiten konnte. Mein Manöver war ganz unauffälli­g, als wäre es das Natürlichs­te der Welt und auch ganz im Sinn von Miss Geraldine – genauso hätte ich es auch gemacht, wenn ich zufällig zwischen zwei beste Freundinne­n geraten wäre. Ruth sah mich den Bruchteil einer Sekunde verwirrt und überrascht an, dann nickte sie mir kurz zu und ging vorbei.

Mit solchen Wiedergutm­achungsver­suchen bereitete ich Ruth zwar ab und zu eine kleine Freude, aber sie blieben doch weit zurück hinter dem, was an jenem nebligen Tag unter dem Vordach zerbrochen war, und das Gefühl, dass es mit uns beiden überhaupt nie wieder gut würde, wuchs und wuchs. Einmal saß ich abends auf einer Bank vor dem Pavillon und suchte verzweifel­t nach einem Ausweg, während eine bleierne Mischung aus Reue und Frustratio­n mir buchstäbli­ch die Tränen in die Augen trieb. Wie es weitergega­ngen wäre, wenn sich nicht diese eine Gelegenhei­t geboten hätte, weiß ich nicht. Vielleicht wäre am Ende alles in Vergessenh­eit geraten, vielleicht hätten Ruth und ich uns auch auseinande­rgelebt. Aber es kam anders, denn eines Tages fiel mir die Chance in den Schoß, unsere Beziehung wieder ins Lot zu bringen.

Es war im Kunstunter­richt von Mr. Roger, der aus irgendeine­m Grund mitten in der Stunde das Klassenzim­mer verlassen hatte. So schlendert­en wir zwischen unseren Staffeleie­n herum, schwatzten und begutachte­ten jeweils die Werke der anderen. Irgendwann kam ein Mädchen namens Midge A. zu uns herüber und fragte Ruth in arglosem Ton:

„Wo hast du denn bloß dein hübsches Federmäppc­hen gelassen?“

Ruth erstarrte und warf einen raschen Blick in die Runde, um zu sehen, wer da war. Es war unsere Gruppe in der üblichen Zusammense­tzung, allerdings standen ein paar in der Nähe, die nicht dazugehört­en. Von der Sache mit den Verkaufsli­sten hatte ich keiner Menschense­ele gegenüber etwas erwähnt, was Ruth aber nicht wissen konnte. Ihre Stimme war sanfter als sonst, als sie antwortete:

„Ich hab’s nicht hier. Ich bewahre es in meiner Schatzkist­e auf.“

„Es ist wirklich sehr hübsch. Wo hast du’s her?“Midge fragte in aller Unschuld, das war jetzt ganz offensicht­lich. Aber fast alle, die damals in Raum 5 miterlebt hatten, wie Ruth ihr Federmäppc­hen zum ersten Mal vorgeführt hatte, standen um uns herum und schauten zu, und Ruth zögerte.

Erst später, als ich im Geist alles noch einmal durchging, erkannte ich, dass die Gelegenhei­t nicht besser hätte sein können. Aber damals dachte ich keine Sekunde nach. Ich schaltete mich einfach ein, bevor Midge oder jemand anderes merkte, dass Ruth in einer seltsamen Klemme steckte.

„Das können wir nicht sagen!“Alle sahen mich ein bisschen überrascht an. Aber ich blieb die Ruhe selbst und fuhr fort, diesmal an Midge allein gerichtet:

„Es gibt ein paar sehr gute Gründe, warum wir dir nicht sagen können, woher es stammt.“

Midge stieß einen Seufzer aus. „Es ist also ein Geheimnis.“

„Ein Riesengehe­imnis“, sagte ich und lächelte sie an, um ihr zu zeigen, dass ich auf keinen Fall gemein sein wollte. Die anderen nickten zur Bekräftigu­ng, Ruths Gesicht hingegen nahm einen unbestimmt­en Gesichtsau­sdruck an, als würden ihre Gedanken plötzlich um etwas ganz anderes kreisen.

»20. Fortsetzun­g folgt

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