Jede Sekunde zählt
Was in Japan passieren kann, wenn ein Zug einmal nicht pünktlich abfährt
Tokio Dass sich die Deutsche Bahn einmal derart entschuldigt wie die Metropolitan Intercity Railway Company? Das japanische Unternehmen jedenfalls bedauerte vor kurzem ausführlich, dass einer seiner Züge zwanzig Sekunden zu früh losgefahren ist. Unvorstellbar bei der Deutschen Bahn, die selbst bei der Eröffnung ihrer neuen PrestigeStrecke zwischen Berlin und München mit einer Panne für Schlagzeilen sorgte, wie auf der Wirtschaft zu lesen ist: Ein ICE blieb am Freitagabend gleich mehrmals liegen. Ein Sprecher sagte, es habe leider eine „Fahrzeugstörung“gegeben.
Die Metropolitan Intercity erklärte dagegen ihr zwanzig Sekunden zu frühes Losfahren detailliert. Der Lokführer habe die Wagen zwar in der richtigen Minute anrollen lassen – doch statt bei Sekunde 40 habe er den Hebel bereits bei Sekunde 20 umgelegt. „Wir drücken unser größtes Bedauern für die Unannehmlichkeiten aus, die wir unseren Kunden verursacht haben könnten.“Sowie: „Der verantwortliche Mitarbeiter hat die Fahrplantabelle nicht in gebührender Weise beachtet.“Und: Eine Untersuchung habe ergeben, dass kein Passagier den Zug wegen der verfrühten Abfahrt verpasst habe. Das Personal habe jedoch klare Anweisung erhalten, eine Wiederholung des „Zwischenfalls“zu verhindern.
In Japan, könnte man sagen, herrscht eben etwas mehr Zug in derlei Angelegenheiten. Überhaupt fahren in Ostasien Züge generell deutlich pünktlicher als in Deutschland. Dort hat sich die Deutsche Bahn für 2017 das Ziel gesteckt, dass der Anteil der pünktlichen Fernzüge bei 81 Prozent liegen soll. China, Japan und Südkorea verfügen über engmaschige Netze von Hochgeschwindigkeitsstrecken, auf denen Verspätungen weitgehend unbekannt sind. Die japanische Bahngesellschaft JR East gibt ihre durchschnittliche Verspätung pro Zug derzeit mit 50 Sekunden an. Ohne Japans häufige Erdbeben und Taifune läge die Zahl nahe null.
Wenn doch mal ein Shinkansen verspätet ist, kommt das in den TVNachrichten. Wie am vergangenen Montag, als bei der Stadt Yamaguchi eine Oberleitung kaputtgegangen war. Auch hier folgten umfangreiche Entschuldigungen.
Nicht nur Japan erreicht – im Vergleich zu Deutschland – traumhafte Pünktlichkeitswerte. In China, das das größte Schnellzugnetz der Welt hat, sind nach eigener offizieller Statistik 98,8 Prozent aller Hochgeschwindigkeitszüge in den vergangenen Jahren pünktlich abgefahren. In Taiwan sind es nach Angaben der dortigen Bahngesellschaft mehr als 99 Prozent.
Die Pünktlichkeit der Züge in Ostasien liegt vor allem an guter Organisation. Die Hochgeschwindigkeitsstrecken sind baulich komplett vom übrigen Netz getrennt. Das Ein- und Aussteigen läuft zudem weitgehend reibungslos. In Japan etwa stehen Fahrgäste in markierten Reihen am richtigen Wagen an. Dort gilt auch nur eine sekundengenaue Abfahrt als pünktlich; die Uhren des Zugpersonals messen in Hundertstelsekunden. In China gilt eine Toleranz von einer Minute. Die Deutsche Bahn zählt eine Abfahrt bis zu einer Verspätung von 5:59 Minuten als pünktlich.