Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (28)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
Gary B., der Unmengen in sich hineinstopfen konnte, kam einmal mit einer dritten Portion Pudding zurück, woraufhin praktisch alle am Tisch ihre Reißverschlüsse aufzogen, Teile aus sich herausnahmen und in Garys Schüssel auftürmten, während er wild entschlossen vor sich hinmampfte.
Tommy behagte es nicht besonders, wenn wieder mal die Reißverschlusssache aufkam, aber die Zeiten waren vorbei, da er die Zielscheibe von Spott und Hohn gewesen war, und ohnehin brachte niemand mehr den Witz mit ihm in Verbindung. Es ging einfach darum, dass wir was zu lachen hatten und vielleicht jemandem den Appetit verderben konnten – und vermutlich war dies auch unsere Art, das anzunehmen und anzuerkennen, was uns bevorstand. In dieser Phase unseres Lebens scheuten wir vor dem Thema Spenden nicht mehr so zurück wie noch ein oder zwei Jahre zuvor, aber wir setzten uns weder sehr ernsthaft damit auseinander
noch diskutierten wir darüber. Die Idee mit dem Reißverschluss war typisch für die Art und Weise, wie diese ganze Thematik in unser Leben eingriff, als wir dreizehn Jahre alt waren.
Deshalb würde ich sagen, dass Miss Lucy den Nagel auf den Kopf traf, als sie ein paar Jahre später sagte, wir wüssten es und wüssten es doch nicht. Mehr noch – jetzt, wo ich darüber nachdenke, würde ich sagen, dass das, was Miss Lucy an diesem Nachmittag zu uns sagte, einen einschneidenden Wandel unserer Einstellung bewirkte. Von diesem Tag an verebbten die Spendenwitze, und wir fingen an, ernsthaft über alles nachzudenken. Wenn überhaupt, wurden die Spenden wieder zu einem Thema, über das man nicht gern sprach, aber jetzt war es anders, als es in unseren jüngeren Jahren gewesen war: nicht mehr peinlich oder unangenehm – es war einfach eine ernste und düstere Angelegenheit.
„Komisch eigentlich“, sagte Tommy, als wir vor ein paar Jahren darüber redeten, „dass sich niemand je Gedanken gemacht hat, wie sie sich wohl fühlte, Miss Lucy selber. Nie sind wir auf die Idee gekommen, dass man ihr vielleicht Schwierigkeiten machte, weil sie so mit uns redete. Wir waren ziemlich egoistisch damals.“
„Aber das kann man uns auch nicht verübeln“, erwiderte ich. „Schließlich hatten sie uns beigebracht, zwar aneinander zu denken, aber nie an die Aufseher. Es kam uns einfach nie in den Sinn, dass auch die Aufseher untereinander uneins sein könnten.“
„Alt genug waren wir“, sagte Tommy. „In dem Alter hätte es uns in den Sinn kommen müssen. Aber nein. Keinen einzigen Gedanken haben wir an die arme Miss Lucy verschwendet. Nicht mal nach diesem einen Mal, du weißt schon, als du sie gesehen hast.“
Ich wusste gleich, worauf er anspielte: auf einen Vormittag in unserem letzten Sommer in Hailsham, als ich sie überraschend in Zimmer 22 antraf. Wenn ich heute darüber nachdenke, muss ich Tommy Recht geben. Danach hätte selbst uns klar werden müssen, wie verstört Miss Lucy inzwischen war. Aber es ist, wie er sagte – nie sahen wir etwas aus ihrem Blickwinkel, und niemals wäre es uns eingefallen, irgendetwas Tröstliches zu sagen oder zu tun, um ihr den Rücken zu stärken.
Kapitel 8
Inzwischen hatten viele von uns das sechzehnte Lebensjahr erreicht.
Es war ein strahlender sonniger Morgen, und wir waren alle nach einer Unterrichtsstunde im Haupthaus in den Hof hinuntergestürmt, aber unten fiel mir ein, dass ich im Klassenzimmer etwas vergessen hatte, und so stieg ich noch einmal in den dritten Stock hinauf. Dort kam es zu dieser Begegnung mit Miss Lucy.
Ich kultivierte damals ein heimliches Spiel: Sobald ich mich irgendwo allein fand, blieb ich stehen und sah mich nach einem Aus- oder Einblick um – aus einem Fenster oder durch eine offene Tür in einen Raum –, alles war mir recht, solange dort niemand war. Damit wollte ich mir die Illusion verschaffen, dass es hier nicht von Kollegiaten wimmelte, sondern dass Hailsham ein stilles, friedliches Haus sei, das ich mir nur mit fünf, sechs anderen Personen teilte.
Damit dieses Spiel funktionierte, musste ich mich in eine Art Traum versetzen und alle Hintergrundgeräusche und Stimmen ausblenden. Meist brauchte es auch ziemlich viel Geduld: Wenn ich mich zum Beispiel an einem Fenster auf einen bestimmten Abschnitt des Sportplatzes konzentrierte, musste ich oft Ewigkeiten auf die paar Sekunden warten, in denen mein Bildausschnitt wirklich leer war. Jedenfalls tat ich das auch an jenem Morgen, nachdem ich mir den vergessenen Gegenstand, worum es sich dabei auch handeln mochte, aus dem Klassenzimmer geholt hatte und wieder auf den Flur im dritten Stock hinausgetreten war.
Ich stand reglos an einem Fenster und blickte in den Bereich des Hofs hinunter, in dem ich mich eben selbst noch aufgehalten hatte. Meine Freundinnen waren schon verschwunden, und während der Hof sich zusehends leerte und ich wartete, dass mein Trick funktionierte, hörte ich auf einmal ein Geräusch hinter mir, das wie ein stoßweise hervorschießender Gas- oder Dampfstrahl klang.
Das Zischen hielt etwa zehn Sekunden an, verstummte und begann von vorn. Ich war nicht besonders beunruhigt, aber da ich offensichtlich der einzige Mensch hier oben war, schien es mir angebracht, nachzusehen, was los war.
Ich folgte dem Geräusch quer über den Treppenabsatz, vorbei an dem Zimmer, in dem ich mich aufgehalten hatte, und weiter durch den Flur bis zu Zimmer 22, dem vorletzten auf der Etage.
Die Tür stand ein Stück offen, und in dem Moment, als ich auf sie zutrat, setzte das Zischen mit neuer Wucht wieder ein. Ich weiß nicht, was ich zu sehen erwartete, als ich vorsichtig die Tür aufschob, aber mit Miss Lucy hätte ich bestimmt nicht gerechnet.
Zimmer 22 war eigentlich nicht für den Unterricht geeignet, denn es war zu klein und zu düster – selbst an einem Tag wie diesem drang kaum Licht herein.
Die Aufseher saßen hier manchmal, um unsere Klassenarbeiten zu korrigieren oder den Unterricht vorzubereiten. An diesem Morgen war es noch dunkler als sonst, denn die Rollläden waren fast ganz herabgelassen. Zwei Tische waren zusammengeschoben, so dass eine Gruppe ringsum sitzen konnte, aber Miss Lucy war allein im hinteren Teil des Raums.
Ich sah, dass mehrere lose Blätter verstreut auf dem Tisch vor ihr lagen, dunkles, glänzendes Papier. Sie selbst stand konzentriert vorgebeugt, die Stirn tief gesenkt, die eine Hand aufgestützt, während die andere ein Blatt Papier mit wütenden Bleistiftstrichen zuschmierte. Unter den dicken schwarzen Strichen war eine blaue Handschrift zu erkennen.