Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (42)
A© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
ls ich Laura darauf aufmerksam machte, dass Keffers die Hefte vergessen hatte, sagte sie: „Na, die werden da nicht lang liegen bleiben. Bei seiner nächsten Razzia wird er sie wieder überall zusammensuchen müssen.“
Aber als ich etwa eine halbe Stunde später am Boilerhaus vorbeischlenderte, lagen die Hefte immer noch so da wie zuvor. Einen Moment lang dachte ich daran, sie mit in mein Zimmer zu nehmen, aber dann wurde mir klar, dass die anderen mich bis in die Ewigkeit damit aufziehen würden, falls die PornoMagazine dort entdeckt würden; außerdem würde niemand meine Beweggründe verstehen. Also nahm ich die Hefte und ging damit ins Boilerhaus zurück.
Das Boilerhaus war in Wirklichkeit einfach eine Scheune wie die anderen. Sie war an das hintere Ende des Haupthauses angebaut worden und war voller alter Mistgabeln und Sensen – lauter Zeug, von dem Keffers vermutlich dachte, es werde
nicht so leicht Feuer fangen, falls der Boiler sich eines Tages entschließen sollte, in die Luft zu fliegen. Keffers hatte auch eine Werkbank hier stehen, und ich legte die Hefte darauf ab, schob ein paar alte Fetzen zur Seite und stemmte mich hoch, bis ich auf der Arbeitsfläche saß. Es war ziemlich düster im Raum, aber irgendwo hinter mir war ein schmutzverkrustetes Fenster, und als ich das erste Heft aufschlug, fand ich das Licht ausreichend.
Es gab jede Menge Bilder von Mädchen, die der Kamera den Hintern entgegenstreckten oder die Beine spreizten. Ich muss gestehen, ich hatte gelegentlich schon solche Bilder angesehen und eine gewisse Erregung verspürt, obwohl ich nie Lust hatte, es mit einem Mädchen zu machen. Aber darum ging es mir an diesem Nachmittag nicht. Ich wollte mich nicht von sexuellen Verlockungen aller Art ablenken lassen und blätterte rasch weiter, ja, ich nahm die verrenkten Leiber kaum wahr, weil ich mich ganz auf die Gesichter konzentrierte. Selbst bei den kleinen Anzeigen am Rand, die für Videos oder was immer warben, sah ich mir erst das Gesicht des Fotomodells an, bevor ich weiterblätterte. Erst als ich mich dem Ende des Stapels näherte, merkte ich, dass draußen vor der Scheune, gleich hinter der Tür, jemand war. Ich hatte sie offen gelassen, nicht nur weil sie normalerweise offen stand, sondern auch damit mehr Licht hereinkam; und schon zweimal hatte ich unwillkürlich aufgeblickt und mir eingebildet, ich hätte ein kleines Geräusch gehört. Aber es war niemand dagewesen, und ich hatte mich nicht stören lassen wollen. Jetzt aber war ich sicher; ich ließ das Heft sinken und gab ein tiefes Seufzen von mir, das draußen sicher deutlich zu hören war.
Ich wartete, dass jemand zu kichern anfing oder zwei, drei andere in die Scheune stürmten und entzückt die Gelegenheit auskosteten, mich mit einem Stapel Pornoheftchen zu erwischen. Aber nichts geschah. Also rief ich laut, bemüht um einen möglichst gleichgültigen Ton:
„Rein mit euch, jede Gesellschaft ist willkommen. Warum so schüchtern?“
Ich hörte ein Glucksen, dann erschien Tommy auf der Schwelle. „Hi, Kath“, sagte er verlegen.
„Nur herein, Tommy, zu zweit macht es doch gleich viel mehr Spaß.“
Zögernd trat er näher und blieb ein paar Schritte vor mir stehen. Dann schaute er zum Boiler hinüber und sagte: „Ich wusste nicht, dass du auf dieses Zeug stehst.“
„Das dürfen doch wohl auch Mädchen, nicht?“
Ich blätterte weiter, und während der nächsten Sekunden blieb er still. Dann hörte ich ihn sagen:
„Ich wollte dir nicht nachspionieren. Aber ich hab dich von meinem Zimmer aus gesehen. Wie du rausgekommen bist und dir den Stapel geholt hast, den Keffers hat liegen lassen.“
„Du kannst sie gern haben, wenn ich fertig bin.“
Er lachte verlegen. „Das sind doch bloß Pornos. Wahrscheinlich hab ich sie schon alle gesehen.“Er lachte noch einmal, aber als ich aufblickte, sah ich, dass er mich mit ernstem Gesicht musterte. Dann fragte er:
„Suchst du was Bestimmtes, Kath?“
„Was meinst du? Nein, ich schau mir bloß unanständige Fotos an.“„Nur so zum Spaß?“„So könnte man’s ausdrücken, ja.“Ich legte ein Heft aus der Hand und fing mit dem nächsten an.
Dann hörte ich Tommys Schritte näher kommen, bis er direkt vor mir stand. Als ich das nächste Mal aufblickte, fuhren seine Hände ungeduldig durch die Luft, als wäre ich mit einer komplizierten handwerklichen Aufgabe beschäftigt und als könnte er es kaum erwarten, mir zu helfen.
„Kath, das macht man… Also wenn es Spaß machen soll, dann macht man das ganz anders. Du musst die Bilder viel gründlicher anschauen. Es funktioniert nicht, wenn du so schnell drüber hinweghuschst.“
„Woher willst du wissen, wie es bei Mädchen funktioniert? Oder hast du sie dir schon mit Ruth angesehen? – ‘tschuldigung, so war das nicht gemeint.“„Kath, was suchst du denn?“Ich ignorierte ihn. Ich war fast am Ende des Stapels angelangt und wollte es jetzt rasch hinter mich bringen. Dann sagte er:
„Ich hab dich schon mal dabei gesehen.“
Diesmal hielt ich doch inne und sah ihn an. „Was soll das heißen? Hat Keffers dich für seine Pornopatrouille rekrutiert?“
„Ich wollte dir wirklich nicht nachspionieren. Aber ich hab dich eben gesehen, letzte Woche mal, nachdem wir alle in Charleys Zimmer gewesen waren. Da lag eines dieser Hefte herum, und du dachtest, wir wären alle fort. Aber ich kam noch mal zurück, um meinen Pulli zu holen, und Claires Tür stand offen, so dass ich durch ihr Zimmer hindurch direkt in Charleys Zimmer schauen konnte. Und da hab ich dich in dem Heft blättern sehen.“
„Na und? Wir holen uns eben alle irgendwo unsere Kicks.“
„Deswegen hast du es nicht getan. Das hat man dir deutlich angesehen, so wie jetzt. Es ist dein Gesicht, Kath. In Charleys Zimmer hast du so ein komisches Gesicht gemacht. Wie wenn du traurig wärst vielleicht. Und ein bisschen ängstlich.“
Ich sprang von der Werkbank, sammelte die Hefte ein und drückte sie ihm in die Hände. „Hier. Gib sie Ruth. Schau, ob sie bei ihr was bewirken.“Ich ging an ihm vorbei und verließ die Scheune. Ich wusste, dass er enttäuscht war, weil ich ihm nichts verraten hatte, aber zu dem Zeitpunkt hatte ich selbst noch nicht richtig darüber nachgedacht und war nicht bereit, es mit jemandem zu bereden. Aber ich war Tommy nicht böse, dass er mir ins Boilerhaus gefolgt war, gar nicht. Im Gegenteil, ich fühlte mich getröstet, fast beschützt. Am Ende verriet ich es ihm doch, allerdings erst ein paar Monate später, als wir in Norfolk waren.