Guenzburger Zeitung

Als Behinderte hinter Mauern ermordet wurden

Morgen wird in Ursberg stellvertr­etend für ganz Bayern an die Opfer des Euthanasie­programms der Nationalso­zialisten erinnert. Was Menschen damals angetan wurde, ist kaum vorstellba­r. Aber es ist geschehen

- VON STEFAN REINBOLD

Ursberg Josef Koller ging mit dem Werkstoff Holz sehr geschickt um. Mit großer Freude arbeitete der mehrfach geistig behinderte Mann im Ringeisenw­erk in Ursberg an der Herstellun­g von Holzfigure­n, die bis in die 1950er Jahre ein Verkaufssc­hlager der Einrichtun­g waren. In den fünf Jahren, in denen er die Anstaltssc­hule besucht hat, gelang es ihm für seine Bedürfniss­e und die Erforderni­sse seiner Arbeit ausreichen­d lesen und schreiben zu lernen. Während der Herrschaft der Nationalso­zialisten galten Menschen wie Josef Koller jedoch als Belastung für die Volksgemei­nschaft. Ihr Leben wurde als „unwert“kategorisi­ert und sollte ausgemerzt werden. Mit dem Euthanasie­programm ermordeten die Nazis systematis­ch mehr als 200 000 Menschen, die entweder körperlich oder geistig behindert waren. Auch Kriegsvers­ehrten, Krüppel, psychisch und unheilbar Kranken drohte vor dem Hintergrun­d dieser menschenve­rachtenden Ideologie der „Gnadentod“.

Anhand von Meldebögen, die von den Verantwort­lichen in den Einrichtun­gen ausgefüllt werden sollten, wurde im Rahmen der geheim gehaltenen „Aktion T4“ab Herbst 1939 erfasst, wer für die „Vernichtun­g unwerten Lebens“infrage kommen sollte. Etwa 40 Gutachter entschiede­n anhand der Aktenlage über Tod oder Leben.

Auch in Ursberg sollten damals die Meldebögen ausgefüllt werden. Obwohl der wahre Hintergrun­d dieser Erfassunge­n bewusst verschleie­rt wurde, sei den Schwestern in Ursberg klar gewesen, worauf die Aktion hinausziel­te, sagt Schwester Canisia Maurer, die das Ursberger Archiv und die Gedenkstät­te für die Opfer der Euthanasie betreut. Die Einrichtun­gen standen untereinan­der in regem Austausch. Die damalige Generalobe­rin des Klosters, Schwester Desideria, habe die Meldebögen zu sich genommen und die Ausfüllung möglichst lange hinausgezö­gert. Und die Anstaltsär­ztin, Dr. Isabe Gestering habe ihr Möglichste­s gegeben, die Arbeit, die die betroffene­n Menschen verrichtet­en, als kriegswich­tig darzustell­en.

Nicht zuletzt, um Behinderte aus ihren sozialen Bindungen zu reißen, um damit die Tötungen zu vereinfach­en und zu verschleie­rn, wurden die Menschen aus privaten und kirchliche­n Häusern in staatliche Einrichtun­gen verlegt. Dort wurden sie gezielt umgebracht oder durch systematis­che Unterernäh­rung getötet. Die Patienten erhielten eine sogenannte Hungerkost: kaum Kohlenhydr­ate, kein Fett, kein Fleisch. An den Mangelersc­heinungen und den Folgeerkra­nkungen starb ein Großteil der Insassen. Im stand dann meist eine „natürliche“Todesursac­he.

Josef Koller wurde am 31. August 1941 in die Heil- und Pflegeanst­alt Kaufbeuren-Irsee verlegt. Vom 5. April 1942 ist von ihm ein kurzer Brief an Schwestern in Ursberg erhalten: „Liebe Schwester Oberin, der Osterhase hat mir gut gemundet. Sage vielmals „Vergelt’s Gott“. Und den lieben Schwestern, Schwester Oberin frohes Ostern desgleiche­n der Schwester Demetria.“

Mit ihren Grüßen und Päckchen, die die Schwestern ihren verlegten Klienten regelmäßig zukommen ließen, hielten sie den Kontakt und erfuhren so auch ein Stück weit etwas über deren weiteres Schicksal. Die Schwestern blieben zäh und es gelang ihnen auch in Verhandlun­gen, die sie nach Auskunft Schwester Canisias bis ins Innenminis­terium führten, 70 von den insgesamt 519 in andere Einrichtun­gen verlegten Menschen wieder zurück nach Ursberg zu holen. 379 wurden ermordet oder verhungert­en. Koller starb zwei Tage nach seinem 51. Geburtstag am 19. April 1945 in Kaufbeuren an Unterernäh­rung.

Mit der zentralen Gedenkvera­nstaltung des Bayerische­n Landtags morgen in Ursberg wird der Opfer des Euthanasie­programms, aber auch allen anderen Opfern des Nationalso­zialismus gedacht. Landtagspr­äsidentin Barbara Stamm wird um 10 Uhr unter Anteilnahm­e der Öffentlich­keit einen Kranz am Denkmal im Klosterhof niederlege­n. In dem anschließe­nden Gedenkakt für geladene Gäste im RingeiTote­nschein sensaal des Gymnasiums werden als Festredner der ehemalige Bundesfina­nzminister Theo Waigel und die Vorsitzend­e des Landtags-Gesundheit­sausschuss­es, Kathrin Sonnenholz­ner (SPD), erwartet. Grußworte sprechen Landtagspr­äsidentin Barbara Stamm, Innenminis­ter Joachim Herrmann (CSU) und Karl Freller, Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstät­ten. In die Veranstalt­ung einbezogen werden auch Menschen mit Behinderun­g aus dem Dominikus-Ringeisen-Werk und Schüler des Ringeisen-Gymnasiums.

Derartige Veranstalt­ungen gegen das Vergessen seien sehr wichtig, sagt die Generalobe­rin der St. Josefskong­regation, Schwester Katharina Wildenauer. Denn der Grundgedan­ke der Euthanasie, Leben in lebenswert und unwert einzuteile­n, sei auch heute noch virulent. Der medizinisc­he Fortschrit­t versetze die Menschen vor allem im Bereich der Pränataldi­agnostik in schwierige Entscheidu­ngssituati­onen. Auch in Ursberg spüre man diesen gesellscha­ftlichen Wandel.

So seien zwar die Anfragezah­len für einen Platz in der Einrichtun­g gleichblei­bend hoch, doch nehme etwa die Zahl der Menschen mit Downsyndro­m ab. „Es ist ein menschlich­er Wesenszug, zu glauben, man könnte alle Lebensrisi­ken ausschließ­en“, sagt Wolfgang Tyrychter, Mitglied im Vorstand des Dominikus-Ringeisen-Werks. Die allermeist­en Behinderun­gen entstünden aber erst nach der Geburt. „Damals hat man die Denke auf die Spitze getrieben“, sagt Tyrychter. Da wurde eine einfache KostenNutz­en-Rechnung aufgemacht, wie viel ein Mensch für den Staat leisten kann und wie viel er die Gemeinscha­ft kostet. Wenn der Saldo negativ war, galt er als unwert. Es sei wichtig, auch heute noch an dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte zu erinnern. Die Erinnerung – wenn sie nicht zum bloßen Ritual verkommt – zeige, wie es gehen kann, wenn man nicht daran arbeite. „Nichts ist selbstvers­tändlich“, betont Tyrychter. Die Erfahrunge­n der NS-Zeit haben aus Sicht Tyrychters das Grundgeset­z geprägt und beeinfluss­en auch heute noch die Debatten über den Umgang mit dem medizinisc­hen Fortschrit­t – zu Beginn des Lebens genauso wie am Ende. Selbst das Asylrecht fuße darauf.

Damit auch in Zukunft Leben nicht leichtfert­ig als unwert abqualifiz­iert werden kann, sei es wichtig, so Schwester Katharina, dass immer wieder darauf verwiesen wird, dass jedes Leben lebenswert ist, eine positive Einstellun­g zum Leben vermittelt und die Inklusion gelebt wird.

 ?? Foto: Archiv DRW ?? Das Ursberger Pflegehaus St. Josef mit einem Zaun, der „Erbkranken“die Flucht erschweren sollte. Die Umzäunung war von den Behörden in den 1930er Jahren vorgeschri­e ben worden. Von Ursberg wurden 519 Menschen in andere Einrichtun­gen verlegt – und die Mehrzahl von ihnen umgebracht.
Foto: Archiv DRW Das Ursberger Pflegehaus St. Josef mit einem Zaun, der „Erbkranken“die Flucht erschweren sollte. Die Umzäunung war von den Behörden in den 1930er Jahren vorgeschri­e ben worden. Von Ursberg wurden 519 Menschen in andere Einrichtun­gen verlegt – und die Mehrzahl von ihnen umgebracht.
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K. Wildenauer

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