Guenzburger Zeitung

Der Tod des Moments

- VON PATRICK LINDERMÜLL­ER redaktion@guenzburge­r zeitung.de

Egal, wo man hinschaut – überall trifft man auf ihn. Ich spreche vom Selfie-Trend. Ich glaube, dieser Trend drückt gut das Prinzip aus, das unsere Zeit ausmacht: Einen Trend, alles festhalten zu wollen, weil uns alles davoneilt. Wir können nicht mehr den Gegenüber er-fassen, er-greifen, wahr-nehmen (alles sensorisch­e Begriffe, die unsere leibhafte Beziehung auf den anderen ausdrücken), weil uns der Augen-blick enteilt. Weil wir schon wieder eigentlich wo ganz anders sind. Um dem zu begegnen, nehmen wir den Augen-blick auf, aber verpassen ihn dabei eigentlich. Der Moment (vom lat. movere = eilen) geht verloren, er enteilt uns. Doch eigentlich macht genau das die Besonderhe­it des Moments aus: Dass er ver-gänglich ist, er endlich ist – wie wir!

Obwohl wir gerade im Sehen das Dynamische des Augenblick­s/Moments erfassen könnten, die Besonderhe­it des Moments spüren würden, tun wir es nicht. Wir versuchen es für immer, ewig festzuhalt­en. Doch auf dem Foto ist der Augenblick nicht mehr spürbar, er ist tot. Ein Stück verpasstes Leben. Eine Sargaufnah­me des Moments. Mein Vorschlag ist daher, entschleun­igen wir die Zeit (d.h. hier weniger Selfies) und machen sie dadurch gerade wieder zu momenthaft­en (bewegten) Augenblick­en, die uns berühren können und nicht nur auf Fotos rührend zurücklass­en, wie am Grab eines geliebten verstorben­en Menschen, von dem wir nun merken, dass wir Zeit seines Lebens ihn nicht wahrnahmen und es nun zu spät ist.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany