Steinmeier hat seine Rolle gefunden
Heute vor einem Jahr wurde der frühere Kanzlerkandidat zum Präsidenten gewählt. Er hat keine Macht. Trotzdem könnte es bald auf ihn ankommen
Sein Terminkalender wollte es so: Während im politischen Berlin am Freitag die Erde bebte, NochSPD-Chef Martin Schulz seinen mehr oder minder erzwungenen Verzicht auf das Amt des Außenministers verkündete und damit die ohnehin schon schwer angeschlagene SPD noch tiefer in den Strudel riss, saß Frank-Walter Steinmeier im 8200 Kilometer entfernten Pyeongchang. Auf der Ehrentribüne des Olympiastadions verfolgte er die feierliche Eröffnung der Winterspiele, nachdem er zuvor politische Gespräche mit seinem südkoreanischen Amtskollegen Moon Jae In geführt hatte. Eine Aufgabe, maßgeschneidert für den früheren Außenminister.
Aber auch im fernen Pyeongchang wurde Steinmeier, der heute vor einem Jahr von der Bundesversammlung im ersten Wahlgang mit großer Mehrheit zum Nachfolger von Joachim Gauck gewählt worden war, mit den turbulenten Ereignissen in Deutschland und der Erosion „seiner“SPD konfrontiert. Mehr noch, manche wollten ihm gar eine gewisse Mitschuld für die verfahrene Lage geben, war es doch der Bundespräsident, der nach dem Scheitern der JamaikaSondierungen im November den SPD-Chef aufgefordert hatte, alle Möglichkeiten für eine Regierungsbildung auszuloten. Von diesem Augenblick an war Martin Schulz ein Getriebener, der mit seinen 180-Grad-Wendungen in der Partei wie in der Öffentlichkeit ein Glaubwürdigkeitsproblem hatte.
Steinmeier hat sich diese Rolle nicht ausgesucht, aber sie fiel ihm zu. Und er nahm sie an. Denn er hätte im Falle der Fälle entscheiden müssen, ob er eine Minderheitsregierung akzeptiert oder den Bundestag auflöst und Neuwahlen ansetzt. Das Scheitern der JamaikaSondierungen war für ihn keine „Stunde null“, wie der Spiegel damals düster titelte, sondern nur das Ende einer Option. Eine zweite, die Neuauflage der Großen Koalition, bestand weiterhin. Und der Präsident wollte lediglich, dass die Verantwortlichen von CDU, CSU und SPD auch diese Option ernsthaft prüfen, bevor er zur Ultima Ratio schreiten muss – die Auflösung des Parlaments.
So erwies sich Walter Steinmeier als Stabilitätsanker in brodelnder See, unaufgeregt, in sich ruhend, verlässlich. Zwar ist er kein begnadeter Redner wie sein Vorgänger Joachim Gauck, der mit der Macht des Wortes umzugehen verstand. Auch ist er nicht, wie Gauck, von außen, als freier, parteipolitisch ungebundener Bürger, an die Spitze des Staates gerückt. Aber als Politiker und Pragmatiker, der das System mit all seinen Verästelungen bestens kennt, weiß er, wie die Politik funktioniert und welchen Spielraum die handelnden Akteure haben, die ihm noch dazu vertraut sind.
Im politischen System hat der Präsident nur wenig Macht, aber große Autorität. Im Normalfall wird diese nicht gebraucht. Aber die Zeiten sind gerade nicht normal, noch immer ist offen, ob eine neue Regierung überhaupt zustande kommt. Der Mitgliederentscheid und die geheime Wahl der Kanzlerin im Bundestag sind hohe Hürden auf dem Weg dorthin. Und der Bundespräsident spielt dabei eine entscheidende Rolle.
Er ist nach dem Grundgesetz der Herr des Verfahrens. Es ist beruhigend, zu wissen, dass ein derart besonnener Mann an der Spitze des Staates steht, der als Diplomat stets den Ausgleich gesucht hat. Für Experimente mit ungewissem Ausgang steht Frank-Walter Steinmeier nicht zur Verfügung.