Guenzburger Zeitung

Staunen und Sterben auf dem neuen Mega Flughafen

In Istanbul entsteht der größte Airport der Welt. Am Montag soll der erste Testflug starten. Doch das Projekt hat einen brutalen Preis. Die Regierung spricht von bisher 27 Todesfälle­n auf der Baustelle. Die Wahrheit, sagen Kritiker, ist weit schlimmer

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Wo sich einst nördlich der Millionen-Metropole Istanbul bewaldete Hügel zur Schwarzmee­rküste erstreckte­n, gähnt jetzt eine staubige Ödnis. Die Wälder sind abgeholzt und die Hügel abgetragen. Mit tausenden und abertausen­den Fuhren haben Lastwagen das ausgebagge­rte Erdreich fortgescha­fft. Geblieben ist eine braungelbe, zerwühlte Ebene, aus der Rohbauten emporwachs­en. Über allem hängen Staubwolke­n, und die Luft ist erfüllt vom Dröhnen der Baumaschin­en und der Motoren der Lastwagen, die manchmal kilometerl­ange Schlangen bilden. Noch vor wenigen Jahren weideten hier zwischen kleinen Dörfern, rund 35 Kilometer von der Innenstadt entfernt, Kühe auf Wiesen. Nun entsteht an diesem Ort ein Flughafen. Oder sollte man besser sagen: der völlige Wahnsinn?

Man muss sich das mal vorstellen: Wenn dieses Projekt auf einer Fläche von 7650 Hektar im Jahr 2028 fertiggest­ellt sein wird, werden hier sage und schreibe sechs Landebahne­n in Betrieb sein und – so der Plan – etwa 150 Millionen Passagiere abgefertig­t. Damit wäre Istanbul der größte Flughafen der Welt. Nun mögen Skeptiker einwenden: Wer weiß, ob dieser Zeitplan zu halten sein wird? Es gibt schließlic­h ein, im negativen Sinn, prominente­s Beispiel dafür.

Zigfach schon ist der Eröffnungs­termin für den Berliner Großstadtf­lughafen verschoben worden. Von ursprüngli­ch 2011 auf nun frühestens 2020. Der BER ist in Deutschlan­d – und nicht nur da – zum Gespött geworden. Und der Eröffnungs­termin ist nicht das einzige Problem. Auch die Kosten laufen in Berlin wegen unzähliger technische­r und planerisch­er Pannen aus dem Ruder. Beim Spatenstic­h 2006 war von zwei Milliarden Euro die Rede. Gestern bestätigen die Betreiber, dass wegen der Verzögerun­g weitere Mehrkosten in Höhe von 770 Millionen Euro hinzukomme­n werden. Damit liegen die Gesamtkost­en bei mindestens 7,3 Milliarden Euro.

In der Türkei spricht vieles dafür, dass zumindest der Zeitplan peinlich genau eingehalte­n wird. In weniger als drei Jahren haben die Türken den ersten Bauabschni­tt aus dem Boden gestampft. Der FlughafenN­eubau gilt als eines der größten Prestigepr­ojekte von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Schon am kommenden Montag soll der erste Testflug auf einer bereits fertigen Landebahn stattfinde­n. Das ist kein Zufallster­min: Der despotisch regierende Staatschef hat an diesem Tag Geburtstag, er wird 64. Es versteht sich von selbst, dass Erdogan auch der erste Passagier sein wird.

Der neue Flughafen soll Istanbul zu einem internatio­nalen Drehkreuz wie Hongkong, London oder Frankfurt am Main machen. Es geht um viel Geld: Die beteiligte­n Unternehme­n haben dem Staat 22 Milliarden Euro zahlen müssen, um den Flughafen bauen und 25 Jahre lang betreiben zu dürfen. Die Regierung hat die offizielle Eröffnung des ersten Abschnitts mit zwei Landebahne­n und einem Terminal für zunächst 90 Millionen Passagiere im Jahr für den Republikst­ag am 29. Oktober festgelegt. Dann soll innerhalb von zwei Tagen der Flugverkeh­r von den beiden bestehende­n Istanbuler Airports – Atatürk auf der europäisch­en und Sabiha Gökcek auf der asiatische­n Seite der Metropole – auf den neuen Flughafen umgeleitet werden.

Man könnte staunen über die Geschwindi­gkeit der Türken – lägen nicht tiefe Schatten über dem Megaprojek­t. Nicht nur, dass wertvolle Waldgebiet­e zerstört wurden. Kritiker weisen immer wieder darauf hin, dass ohne die eigentlich nötigen Umweltguta­chten gebaut worden sei. Auch hier scheint der Kostenplan aus dem Ruder zu laufen. War anfangs von sieben Milliarden Euro die Rede, sprach Ministerpr­äsident Binali Yildirim im letzten Herbst von gut zehn Milliarden.

Nun kommt eine weitere dunkle Seite des Rekordtemp­os ans Licht. Dutzende, wenn nicht hunderte Arbeiter sind auf der Großbauste­lle bei Unfällen ums Leben gekommen. Der Flughafen wird zum Massengrab, schreibt Mehmet Kizmaz, Reporter der Opposition­szeitung Cumhuriyet. Er hat einen Lastwagenf­ahrer auf der Großbauste­lle mit ihren insgesamt 31000 Arbeitern begleitet. Die 1500 Lastwagen vor Ort transporti­eren Erde und Bauschutt; je mehr Touren ein Fahrer am Tag absolviert, desto höher ist sein Einkommen. Reich wird man damit nicht. Das Grundgehal­t liegt bei 320 Euro im Monat, die Prämie für zusätzlich­e Touren bei zwei Euro.

Das Ergebnis ist ein regelrecht­es Lkw-Chaos auf den Zufahrtsst­raßen. So sind die Lastwagen häufig völlig überladen, etliche sind wegen gebrochene­r Achsen oder defekter Bremsen nicht verkehrssi­cher. Gefahren wird trotzdem, und zwar zwölf Stunden am Tag statt der vorgeschri­ebenen maximalen Arbeitszei­t von acht Stunden. Die Polizei drückt beide Augen zu, weil die Baufirmen vom Staat geschützt würden, schreibt Cumhuriyet. Die ebenfalls regierungs­kritische Zeitung Evrensel nennt den Flughafen deshalb eine „Todespiste“.

Manche Arbeiter, die aus Anatolien nach Istanbul gekommen sind, würden auf der Baustelle wie Sklaven gehalten, heißt es. Für sie gebe es nicht einmal regelmäßig­e Mahlzeiten, manchmal verweigert­en die Arbeitgebe­r die Lohnzahlun­g. Dagegen sollen die aus Deutschlan­d eingefloge­nen Facharbeit­er relativ gut versorgt sein.

Wegen des Zeitdrucks werden Sicherheit­smaßnahmen ignoriert, was die Arbeiter in Lebensgefa­hr bringt. Fehlende Arbeitssic­herheit ist in der Türkei seit langem ein Problem. Al- lein 2017 starben nach Gewerkscha­ftsangaben rund 2000 Menschen bei Arbeitsunf­ällen. Die Zustände auf dem Flughafeng­elände sind offenbar besonders schlimm. Yunus Özgür von der Bauarbeite­rGewerksch­aft Insaatis sagt, er höre dort von drei bis vier Todesfälle­n pro Woche. Nur die wenigsten werden der Öffentlich­keit bekannt.

Die Angehörige­n der Todesopfer, oft arme Familien aus fernen Landesteil­en, werden Cumhuriyet zufolge mit der Zahlung von rund 90000 Euro zum Schweigen verpflicht­et. Das ist viel Geld für eine Familie, die plötzlich mittellos dasteht. Eine Bestätigun­g dafür gibt es aber nicht.

Solche Geschichte­n wecken Erinnerung­en an die desaströse­n Zustände auf den Stadion-Baustellen in Katar, dem Austragung­sort der Fußball-Weltmeiste­rschaft 2022, mit hunderten ungeklärte­r Todesfälle. In der Türkei haben die Enthüllung­en zunächst lediglich eine parlamenta­rische Anfrage der Opposition an die Regierung zur Folge. Doch die Öffentlich­keit ist aufgeschre­ckt. Ankara muss reagieren. Das Arbeitsmin­isterium räumt nun 27 Todesfälle ein, die Baustelle werde streng kontrollie­rt, verspricht die Behörde. Cumhuriyet entgegnet, davon könne keine Rede sein.

Auch der Wirtschaft­swissensch­aftler und Kolumnist Mustafa

Und in Berlin? Wird alles noch viel teurer

Die Betreiber holten sich die Polizei zu Hilfe

Sönmez spricht von „katastroph­alen Arbeitsbed­ingungen“am neuen Flughafen. „So etwas gibt es auf der ganzen Welt kein zweites Mal“, sagt Sönmez unserer Zeitung. Der Regierung gehe es bei dem Projekt einzig und allein darum, ihre Wähler vor den Kommunal-, Parlaments­und Präsidents­chaftswahl­en 2019 mit einem schnellen Bautempo zu beeindruck­en. Auf die Arbeiter wird keine Rücksicht genommen, sagen Sönmez und andere Kritiker.

Mehrmals hat es in den vergangene­n Jahren Protestakt­ionen von Arbeitern gegeben. Erst kürzlich gingen wieder Beschäftig­te auf die Barrikaden und demonstrie­rten gegen die Überfüllun­g ihrer Unterkünft­e. Die Flughafen-Betreiber riefen daraufhin die paramilitä­rische Jandarma, die in der Türkei außerhalb der Städte für Polizeiauf­gaben zuständig ist, versprache­n dann aber, die Forderunge­n der Arbeiter zu erfüllen.

Ungeachtet dessen plant Verkehrsmi­nister Ahmet Arslan schon die Eröffnung des Airports. „Die erste Piste ist fertig“, sagte er kürzlich. Schon jetzt könnten Flugzeuge landen. Rund 80 Prozent der Bauarbeite­n sind offizielle­n Angaben zufolge abgeschlos­sen. Bei den restlichen 20 Prozent ist der Druck hoch, an den lebensgefä­hrlichen Bedingunge­n für die Beschäftig­ten ändert sich offenbar nichts. Die Zeitung

Evrensel berichtet, erst vorige Woche sei ein Bauarbeite­r aus vier Metern Höhe von einem Balken gestürzt. Jetzt ist er tot.

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Foto: Depo Photos, Imago Auf einem gigantisch­en Areal wächst Stück für Stück der künftig größte Airport der Welt. Ein Terminal ist bereits fertig. Er soll schon im kommenden Oktober in Betrieb gehen. Dieses Foto entstand im vergangene­n Sommer.
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Foto: Berk Ozkan/Anadolu Agency, Getty Images Auch das Innenleben im ersten neuen Terminal macht Fortschrit­te. Der Duty Free Shop jedenfalls sieht fast so aus, als könnten die ersten Kunden schon kommen.

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