Und die Oscars sollten gehen an…
Sonntagnacht werden in Hollywood die Goldstatuen vergeben. Hier sind unsere begründeten Vorschläge für die Preisträger in den sechs Hauptkategorien – samt einiger Hinweise, wer keinesfalls geehrt werden sollte
In der Nacht von Sonntag auf Montag um 0.45 Uhr ist wieder Showtime: In Hollywood werden in einer großen Gala die wichtigsten Filmpreise der Welt verliehen – inmitten einer von Sexismus-Skandalen, Geschlechterund Rassismusdebatten aufgewühlten Filmwelt. Deshalb werden in der Branche und von Kommentatoren auch sicher wieder viele politische Fragen gestellt werden.
Nach dem Protest von „#oscarssowhite“im vergangenen Jahr: Wie viele Dunkelhäutige sind diesmal unter den Preisträgern? Nach dem Aufschrei von „#metoo“: Gewinnt auch eine Frau in den Hauptkategorien „Bester Film“und „Beste Regie“? Nominiert jedenfalls ist etwa im zweiten Fall unter acht Filmen und fünf Regisseuren nur eine Frau: Greta Gerwig für „Lady Bird“. Der Film allerdings ist in Deutschland erst ab Mitte April zu sehen. Ebenso „Roman J. Israel, Esq.“, für den Denzel Washington als dunkelhäutiger Hauptdarsteller nominiert ist. In unserer Auswahl konnten diese Kandidaten darum schon aus praktischen Gründen keine Berücksichtigung finden – ebenso wie etwa Margot Robbie, die unter den Vorschlägen als „Beste Hauptdarstellerin (einer rein weißen Liste) für „I, Tonya“nominiert ist – der Film läuft in Deutschland erst am 22. März an.
Aber auch ideell haben wir nur ein einziges Auswahlkriterium als maßgeblich erachtet, das eventuell politische Signalwirkungen bewusst völlig außen vor lässt: Wir empfehlen zur Prämierung, was uns künstlerisch am meisten überzeugt hat – und wir begründen unsere Wahl darum auch nur aus der unmittelbaren Leistung heraus.
● Zur Systematik Unter der jeweiligen Preiskategorie finden sie alle Nominierten aufgeführt. Unsere Prämierungsempfehlung ist durch die gefettete Schrift hervorgehoben und zugleich im Bild zu sehen. Live Wie jedes Jahr überträgt ProSie ben im Fernsehen und im Internet – ab 23.30 Uhr vom roten Teppich, ab 0.45 Uhr die Preisverleihung.
BESTER HAUPTDARSTELLER Timothée Chalamet / Daniel Day Lewis / Daniel Kaluuya / Gary Oldman / Denzel Washington
Die Problem-Kategorie dieses Jahres. Der Favorit Gary Oldman jedenfalls sollte es als Churchill in „Die dunkelste Stunde“nicht werden. Zu enttäuschend, der Film. Und zwingend will auch nicht erscheinen, Daniel Day-Lewis für „Der seidene Faden“seinen vierten Hauptdarsteller-Oscar zu geben – ist zwar seine letzte Rolle, aber mit dreien hält er eh schon den Rekord. Also: Weg frei für eine Sensation! Das ist es ja fast schon, dass eine einfach bezaubernde Romanze wie „Call Me by Your Name“gleich in zwei Hauptkategorien nominiert ist. Der 22-jährige Timothée Chalamet, ohnehin auf dem Weg zum Shootingstar, ist darin aber auch wirklich wunderbar: lebensecht, berührend, glaubwürdig, eindrucksvoll.
BESTER NEBENDARSTELLER Willem Dafoe / Woody Harrelson / Richard Jenkins / Christopher Plummer / Sam Rockwell
Dass gleich zwei aus „Three Billboards“nominiert sind, ist ungewöhnlich – und macht es nicht leicht, sich für einen zu entscheiden. Woody Harrelson spielt den todkranken Sheriff Bill Willoughby und Sam Rockwell seinen Schützling, den Officer Jason Dixon. Wie Rockwell diese jämmerliche Figur als tölpelhaft Comics lesendes, aber unberechenbar gewalttätiges Muttersöhnchen in Uniform grotesk überzeichnet, irritiert zunächst, wendet und rundet sich dann aber zu einem Selbstfindungstrip, wie er so ergreifend selten im Kino zu sehen war. Also: Oscar für Rockwell! Nur Michael Shannon als Ekel-Agent in „Shape of Water“hätte uns, wäre er nominiert, ins Wanken gebracht.
BESTER FILM Call Me by Your Name / Die dunkelste Stunde / Dunkirk / Get Out / Lady Bird / Der seidene Faden / Die Verlegerin / The Shape of Water / Three Billboards Outside Ebbing, Missouri
Drei Plakatwände, die längst aufgegeben waren, stehen plötzlich feuerrot im Zentrum der Aufmerksamkeit: Mildred Hayes (Frances McDormand!) hat sie gebucht und erhebt öffentlich Vorwürfe gegen den Polizeichef von Ebbing, Missouri, weil der zu wenig tue, um den Mord an ihrer Tochter aufzuklären. Wer sind hier die Opfer, wer die Täter, wer die Guten und die Bösen, die Sympathischen und die Unsympathischen? In Martin McDonaghs Film, grandios bis in die Nebenrollen besetzt, geraten die üblichen Gewissheiten immer wieder durcheinander. Ein dramaturgisches Wechselbad der Gefühle: überdreht, wahrhaftig, anrührend, überraschend, vielschichtig.
Ein wunderbarer „Bester Film“. Am anderen Ende der Skala hingegen: Die dunkelste Stunde.
BESTE REGIE Christopher Nolan / Jordan Peele / Greta Gerwig / Paul Thomas Anderson / Guillermo del Toro
Er hat mit seiner „Batman“-Trilogie die vielleicht besten SuperheldenFilme überhaupt gemacht, zudem starke Werke wie „Memento“, „Inception“und „Interstellar“abgeliefert – und ist noch ungekrönt. Jetzt aber! In seinem Weltkriegs-Drama „Dunkirk“, das die Rettung von rund 350 000 aussichtslos eingekesselten britischen und französischen Soldaten im Frühsommer 1940 erzählt, wählt Nolan eine radikale, beklemmend wuchtige Nahsicht auf die Bangenden und Hoffenden am Strand. Wie er mit dem Film, dessen Aufwand gewaltig, aber nie Selbstzweck ist, eine bezwingende Kinogegenwart erschafft: meisterhaft!
BESTE HAUPTDARSTELLERIN Sally Hawkins / Frances McDormand / Margot Robbie / Saoirse Ronan / Meryl Streep
Hartes Rennen. Nicht wegen der ewig nominierten Meryl Streep. Sie hat als „Verlegerin“– wie der ganze Spielberg-Film – einfach zu viele künstlich wirkende Klischee-Szenen. Nein, man müsste der bereits seit „Fargo“unvergesslichen Frances McDormond für „Three Billboards“eine Statue schnitzen. Aber sie hat ja schon eine. Und die eine vorhandene geht an Sally Hawkins, die sonst oft nur in Nebenrollen auftritt („Blue Jasmin“!) und lange keine starke mehr hatte wie vor zehn Jahren in „Happy-Go-Lucky“. Toll als stumme Kämpfende, Liebende, Verzweifelte in „Shape of Water“. Vor allem, als sie ihren Nachbarn mit Blicken bekniet, bei der Rettung des Wasserwesens zu helfen…
BESTE NEBENDARSTELLERIN Mary J. Blidge / Allison Janney / Lesley Manville / Laurie Metcalf / Octavia Spencer
Dass der merkwürdig psychotische Film „Der seidene Faden“solch einen Sog entwickelt, ist einmal dem großartigen Szenenbild zu verdanken – dann aber vor allem einem ganz starken Schauspieler-Dreieck. Und das für alle Feinheiten so wichtige Zünglein an der Waage bildet die (bislang höchstens durch eine tragende Rolle in Mike
Leighs „Another Year“bekannte) Lesley Manville. Als Schwester eines Modedesigners sorgt sie kühl und im Zweifelsfall eisern für die perfekte Ordnung im Haus – und damit wesentlich für die Atmosphäre dieses
Films. Schließlich weicht sie in kleinsten Verschiebungen alles auf. Einfach meisterliche
Klasse.