Eine Frage des Gewissens
Ist die bloße Information einer Ärztin auf ihrer Homepage, dass sie auch Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, bereits Werbung für Abtreibungen? Seitdem die Gießener Ärztin Kristina Hänel im November in erster Instanz vom Amtsgericht Gießen wegen des Verstoßes gegen den Paragrafen 219a Strafgesetzbuch zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt wurde, kocht das Thema auf der politischen Bühne. Mehr noch, mittlerweile hat es sich derart zugespitzt, dass es einen tiefen Keil zwischen Union und SPD treibt.
An dem Tag, an dem Angela Merkel, Horst Seehofer und Olaf Scholz den Koalitionsvertrag unterschreiben und die Fortsetzung ihrer Zusammenarbeit besiegeln, stehen sich die Koalitionäre in dieser Frage unversöhnlich gegenüber. Die Union pocht auf eine Beibehaltung des Paragrafen, die SPD will mit der Opposition gemeinsame Sache machen. Schlechter kann die gemeinsame Regierungsarbeit gar nicht beginnen: Das Misstrauen auf beiden Seiten ist mit den Händen zu greifen.
Die Liberalen bieten einen Mittelweg zwischen den Extrempositionen an – der umstrittene Paragraf 219a bleibt, wird aber so umformuliert, dass Ärzte ohne Strafandrohung ihre Patientinnen informieren dürfen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Zudem böte sich an, die Abstimmung im Parlament zur Gewissensentscheidung zu erklären, wie es Angela Merkel im Frühsommer mit ihrem Coup bei der Ehe für alle gemacht hat. Dann könnte jeder Abgeordnete für sich ohne Fraktionszwang entscheiden – und der Koalitionsfriede wäre nicht in Gefahr.