Guenzburger Zeitung

„Wir sind nicht die Werkbank der Welt“

Die Grünen-Bundestags­abgeordnet­e Ekin Deligöz im Gespräch über die Opposition mit der AfD im Parlament, bayerische Spezialitä­ten beim Verkehr und über die Möglichkei­ten, Wirtschaft und Umweltschu­tz miteinande­r zu vereinen

- Interview: Stefan Reinbold

Frau Deligöz, mit dem Scheitern der Gespräche für eine Jamaika-Koalition platzte auch für die Grünen der Traum, mitzuregie­ren. Wie fühlt sich jetzt die Opposition­srolle in dem neuen Bundestag an, mit der AfD als stärkster Opposition­spartei und der Aussicht auf weitere vier Jahre Große Koalition?

Ekin Deligöz: Die Große Koalition startet ohne Visionen, das ist eine Konstellat­ion auf Zeit. Die Grundfrage­n werden in dem Koalitions­vertrag nicht angegangen. Jeder versucht nur, für die eigene Klientel so viel rauszuhole­n, wie möglich. Natürlich hätten wir gerne mitregiert und das Land gestaltet. Man darf aber nicht vergessen, der Bundestag ist ein Arbeitspar­lament. Insofern ist es nicht falsch, dass sich auch die AfD der Debatte stellen muss. Zuletzt ging es im Haushaltsa­usschuss, dem ich angehöre, um die Lösung für die rentenrech­tliche Situation der in der DDR geschieden­en Frauen. Die AfD hatte keinen Begriff von diesem Problem. Offensicht­lich geht es ihnen nicht um die Sache.

Eines der größten Probleme, das sich den Menschen auch bei uns im Landkreis ganz konkret offenbart, ist der Personalma­ngel im Bereich der Pflege. Im neuen Koalitions­vertrag wurden nun unter anderem 8000 zusätzlich­e Stellen für Pfleger beschlosse­n. Wie beurteilen sie diese Maßnahmen? Deligöz: Das wird nicht ausreichen, offenbar ist der Leidensdru­ck der Bevölkerun­g noch nicht als entspreche­nder Druck auf die politisch Verantwort­lichen angekommen. Das Problem wurde viel zu lange verschlafe­n. Die Union hat lange gedacht, Pflege ist Privatsach­e somit Aufgabe der Familien und hat damit die Betroffene­n alleine gelassen.

Stichwort Familie. Familien sollen im neuen Koalitions­vertrag explizit gestärkt werden. Unter anderem soll Familien durch ein Baukinderg­eld ermöglicht werden, sich eher Wohneigent­um anzuschaff­en. Zudem soll das Kindergeld angehoben werden. Ist das nichts, worüber sich Familien freuen sollten? Deligöz: Das geht doch am Kern vorbei. Das Baukinderg­eld kommt nur denen zugute, die sich ohnehin da- für entscheide­n würden, ein Haus zu bauen. Sozialpoli­tik wird in diesem Land noch immer über das Steuerwese­n betrieben. Das begünstigt bislang die, die bereits gut gestellt sind. Das hätten wir gerne geändert. Nicht der, der eh schon viel verdient, soll viel bekommen, sondern die, die wenig für ihre Kinder haben. Das Geld kommt nicht da an, wo der Bedarf am höchsten ist. In der Jamaika-Koalition hätten wir automatisc­h einen Kindergeld­zuschlag gestattet, ohne dass sich die Eltern komplett offenbaren müssen und damit Kinderarmu­t in unserem Land aktiv bekämpft.

Die Wirtschaft in diesem Land brummt. Auch im Landkreis Günzburg ist die Arbeitslos­igkeit historisch niedrig. Trotzdem werden auch hier die Schlangen vor den Tafeln immer länger. Was läuft da schief?

Deligöz: Armut ist hier wieder ein Problem. Problemati­sch ist dabei nicht nur die Zahl, die statistisc­h erfasst wird, sondern die hohe Dunkelziff­er, Menschen, die sich schämen, zum Amt zu gehen. Die Altenheime sind immer voller mit Sozialhilf­eempfänger­n und es gibt Menschen, die sind arm trotz Arbeit. Wenn jetzt die Vorteile einer Ausbildung betont werden, muss man auch die Frage stellen, was verdient der Geselle. Die Kernfrage ist auch, wie kriegen wir sozialen Aufstieg hin. Die Reformen müssten jetzt kommen. Wann, wenn nicht jetzt. Wir haben damals mit Rot-Grün die Krise der hohen Arbeitslos­igkeit mit einer Reform bekämpft. Natürlich muss man diese Reform nach fast zwei Jahrzehnte­n wieder überarbeit­en.

Ihre Partei hat in Bayern nun ein Volksbegeh­ren zur Eindämmung des Flächenver­brauchs angestoßen. Auch hier im Kreis wird kräftig gebaut. So soll die Stadt Ichenhause­n eine Umfahrung für die B 16 erhalten. Im Mindeltal werden nach und nach alle Kommunen umfahren. Wie wollen Sie den Flächenver­brauch eindämmen, ohne die weitere Entwicklun­g Bayerns zu hemmen?

Deligöz: Umgehungss­traßen scheinen eine bayerische Spezialitä­t zu sein. Von den derzeit im Bau befindlich­en Umgehungss­traßen befinden sich die meisten in Bayern. Ob das daran liegt, dass die Verkehrsmi­nister zuletzt immer aus Bayern kamen? Wenn man eine Umfahrung mit einer Innenstadt­aufwertung verbindet, kann man das ja durchaus als Wirtschaft­sförderung begreifen. Der Landkreis Günzburg hat ein gutes Verkehrsne­tz. Aber wir investiere­n das Geld nicht in dem Maße in den ÖPNV, in dem es geboten wäre. Mit dem Volksbegeh­ren setzen wir die Prioritäte­n anders, hin zu einem nachhaltig­eren Denken. Dafür werden wir zwar belächelt, aber darum geht es doch. Wir hinken bislang den Problemen immer nur hinterher.

Vom politische­n Gegner wird ihnen immer wieder der Vorwurf gemacht, als Verhinderu­ngs- und Verbotspar­tei zu agieren. Sie sprechen dagegen davon, Ökologie und Ökonomie zu versöhnen. Wo sehen Sie in diesem Zusammenha­ng Potenzial im Landkreis? Deligöz: Die ganzen innovative­n Unternehme­n im Maschinenb­au, im Wärmeschut­z, selbst die Silbermanu­faktur in Krumbach machen sich Gedanken, wie die Stromkoste­n zu senken sind. Entweder sie verbrauche­n wenig oder nutzen eine eigene Energieque­lle. Da muss man als Staat manchmal mit Zuckerbrot und Peitsche arbeiten. Unter Rot-Grün haben wir das 100000 Dächer Programm aufgelegt. Im Gespräch mit Verantwort­lichen der Firma Creaton habe ich erfahren, dass dieses Programm das Unternehme­n dazu animiert hätte, die neuen Dachziegel zu entwerfen, die sie heute weltweit exportiere­n. Und wenn in China die Solarzelle­n billiger produziert werden, gut. Wir sind doch nicht die Werkbank der Welt. Wir planen, bauen ein und konstruier­en. Der Ingenieur, der Dachdecker und der Elektriker, die kommen aus Deutschlan­d. Aber man muss an den Technologi­en arbeiten. Ich möchte, dass kleinere und mittelstän­dische Unternehme­n Ausgaben für Forschung und Innovation­en von der Steuer absetzen können und in ihrer Innovation­skraft bestärkt werden.

Kommen wir von der Technologi­e noch zu etwas Menschlich­em: Haben Sie Kontakt zu Mesale Tolu? Wissen Sie, wie es ihr geht?

Deligöz: Ich bin mit ihren Geschwiste­rn in Kontakt. Sie leidet ohne Ende. Sie weiß nicht, warum sie das Land nicht verlassen darf, während Deniz Yücel ausreisen durfte. Sie weiß auch immer noch nicht, was ihr vorgeworfe­n wird. Die deutsche Botschaft macht einen großartige­n Job. Das Personal setzt sich wirklich ein für seine Bürger – ohne Unterschie­de zu machen. Das ist es ja, was die Türkei den Deutschen zum Vorwurf macht. Die Anwendung des Rechts, das was unseren Staat verlässlic­h macht. Demokratie und Gewaltente­ilung sind hohe Güter, die wir tagtäglich verteidige­n sollten.

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Symbolfoto: Katja Lenz, dpa Deutschlan­d sei nicht der Ort, wo die Solarzelle­n hergestell­t werden müssen. „Wir planen, bauen ein und konstruier­en“, sagt Grü nen Bundestags­abgeordnet­e Ekin Deligöz im Interview mit unserer Zeitung.
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Ekin Deligöz

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