„Wir sind nicht die Werkbank der Welt“
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz im Gespräch über die Opposition mit der AfD im Parlament, bayerische Spezialitäten beim Verkehr und über die Möglichkeiten, Wirtschaft und Umweltschutz miteinander zu vereinen
Frau Deligöz, mit dem Scheitern der Gespräche für eine Jamaika-Koalition platzte auch für die Grünen der Traum, mitzuregieren. Wie fühlt sich jetzt die Oppositionsrolle in dem neuen Bundestag an, mit der AfD als stärkster Oppositionspartei und der Aussicht auf weitere vier Jahre Große Koalition?
Ekin Deligöz: Die Große Koalition startet ohne Visionen, das ist eine Konstellation auf Zeit. Die Grundfragen werden in dem Koalitionsvertrag nicht angegangen. Jeder versucht nur, für die eigene Klientel so viel rauszuholen, wie möglich. Natürlich hätten wir gerne mitregiert und das Land gestaltet. Man darf aber nicht vergessen, der Bundestag ist ein Arbeitsparlament. Insofern ist es nicht falsch, dass sich auch die AfD der Debatte stellen muss. Zuletzt ging es im Haushaltsausschuss, dem ich angehöre, um die Lösung für die rentenrechtliche Situation der in der DDR geschiedenen Frauen. Die AfD hatte keinen Begriff von diesem Problem. Offensichtlich geht es ihnen nicht um die Sache.
Eines der größten Probleme, das sich den Menschen auch bei uns im Landkreis ganz konkret offenbart, ist der Personalmangel im Bereich der Pflege. Im neuen Koalitionsvertrag wurden nun unter anderem 8000 zusätzliche Stellen für Pfleger beschlossen. Wie beurteilen sie diese Maßnahmen? Deligöz: Das wird nicht ausreichen, offenbar ist der Leidensdruck der Bevölkerung noch nicht als entsprechender Druck auf die politisch Verantwortlichen angekommen. Das Problem wurde viel zu lange verschlafen. Die Union hat lange gedacht, Pflege ist Privatsache somit Aufgabe der Familien und hat damit die Betroffenen alleine gelassen.
Stichwort Familie. Familien sollen im neuen Koalitionsvertrag explizit gestärkt werden. Unter anderem soll Familien durch ein Baukindergeld ermöglicht werden, sich eher Wohneigentum anzuschaffen. Zudem soll das Kindergeld angehoben werden. Ist das nichts, worüber sich Familien freuen sollten? Deligöz: Das geht doch am Kern vorbei. Das Baukindergeld kommt nur denen zugute, die sich ohnehin da- für entscheiden würden, ein Haus zu bauen. Sozialpolitik wird in diesem Land noch immer über das Steuerwesen betrieben. Das begünstigt bislang die, die bereits gut gestellt sind. Das hätten wir gerne geändert. Nicht der, der eh schon viel verdient, soll viel bekommen, sondern die, die wenig für ihre Kinder haben. Das Geld kommt nicht da an, wo der Bedarf am höchsten ist. In der Jamaika-Koalition hätten wir automatisch einen Kindergeldzuschlag gestattet, ohne dass sich die Eltern komplett offenbaren müssen und damit Kinderarmut in unserem Land aktiv bekämpft.
Die Wirtschaft in diesem Land brummt. Auch im Landkreis Günzburg ist die Arbeitslosigkeit historisch niedrig. Trotzdem werden auch hier die Schlangen vor den Tafeln immer länger. Was läuft da schief?
Deligöz: Armut ist hier wieder ein Problem. Problematisch ist dabei nicht nur die Zahl, die statistisch erfasst wird, sondern die hohe Dunkelziffer, Menschen, die sich schämen, zum Amt zu gehen. Die Altenheime sind immer voller mit Sozialhilfeempfängern und es gibt Menschen, die sind arm trotz Arbeit. Wenn jetzt die Vorteile einer Ausbildung betont werden, muss man auch die Frage stellen, was verdient der Geselle. Die Kernfrage ist auch, wie kriegen wir sozialen Aufstieg hin. Die Reformen müssten jetzt kommen. Wann, wenn nicht jetzt. Wir haben damals mit Rot-Grün die Krise der hohen Arbeitslosigkeit mit einer Reform bekämpft. Natürlich muss man diese Reform nach fast zwei Jahrzehnten wieder überarbeiten.
Ihre Partei hat in Bayern nun ein Volksbegehren zur Eindämmung des Flächenverbrauchs angestoßen. Auch hier im Kreis wird kräftig gebaut. So soll die Stadt Ichenhausen eine Umfahrung für die B 16 erhalten. Im Mindeltal werden nach und nach alle Kommunen umfahren. Wie wollen Sie den Flächenverbrauch eindämmen, ohne die weitere Entwicklung Bayerns zu hemmen?
Deligöz: Umgehungsstraßen scheinen eine bayerische Spezialität zu sein. Von den derzeit im Bau befindlichen Umgehungsstraßen befinden sich die meisten in Bayern. Ob das daran liegt, dass die Verkehrsminister zuletzt immer aus Bayern kamen? Wenn man eine Umfahrung mit einer Innenstadtaufwertung verbindet, kann man das ja durchaus als Wirtschaftsförderung begreifen. Der Landkreis Günzburg hat ein gutes Verkehrsnetz. Aber wir investieren das Geld nicht in dem Maße in den ÖPNV, in dem es geboten wäre. Mit dem Volksbegehren setzen wir die Prioritäten anders, hin zu einem nachhaltigeren Denken. Dafür werden wir zwar belächelt, aber darum geht es doch. Wir hinken bislang den Problemen immer nur hinterher.
Vom politischen Gegner wird ihnen immer wieder der Vorwurf gemacht, als Verhinderungs- und Verbotspartei zu agieren. Sie sprechen dagegen davon, Ökologie und Ökonomie zu versöhnen. Wo sehen Sie in diesem Zusammenhang Potenzial im Landkreis? Deligöz: Die ganzen innovativen Unternehmen im Maschinenbau, im Wärmeschutz, selbst die Silbermanufaktur in Krumbach machen sich Gedanken, wie die Stromkosten zu senken sind. Entweder sie verbrauchen wenig oder nutzen eine eigene Energiequelle. Da muss man als Staat manchmal mit Zuckerbrot und Peitsche arbeiten. Unter Rot-Grün haben wir das 100000 Dächer Programm aufgelegt. Im Gespräch mit Verantwortlichen der Firma Creaton habe ich erfahren, dass dieses Programm das Unternehmen dazu animiert hätte, die neuen Dachziegel zu entwerfen, die sie heute weltweit exportieren. Und wenn in China die Solarzellen billiger produziert werden, gut. Wir sind doch nicht die Werkbank der Welt. Wir planen, bauen ein und konstruieren. Der Ingenieur, der Dachdecker und der Elektriker, die kommen aus Deutschland. Aber man muss an den Technologien arbeiten. Ich möchte, dass kleinere und mittelständische Unternehmen Ausgaben für Forschung und Innovationen von der Steuer absetzen können und in ihrer Innovationskraft bestärkt werden.
Kommen wir von der Technologie noch zu etwas Menschlichem: Haben Sie Kontakt zu Mesale Tolu? Wissen Sie, wie es ihr geht?
Deligöz: Ich bin mit ihren Geschwistern in Kontakt. Sie leidet ohne Ende. Sie weiß nicht, warum sie das Land nicht verlassen darf, während Deniz Yücel ausreisen durfte. Sie weiß auch immer noch nicht, was ihr vorgeworfen wird. Die deutsche Botschaft macht einen großartigen Job. Das Personal setzt sich wirklich ein für seine Bürger – ohne Unterschiede zu machen. Das ist es ja, was die Türkei den Deutschen zum Vorwurf macht. Die Anwendung des Rechts, das was unseren Staat verlässlich macht. Demokratie und Gewaltenteilung sind hohe Güter, die wir tagtäglich verteidigen sollten.