Guenzburger Zeitung

Allein in der großen Dunkelheit

Der britische Astrophysi­ker Stephen Hawking gehört zu den bedeutends­ten Wissenscha­ftlern aller Zeiten. Mit seinen Theorien über die Geheimniss­e des Weltalls fesselt er Forscher und Laien. Wie ein behinderte­s Genie, dem die Ärzte noch drei Jahre gaben, ein

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

London Dass er von Religion nichts hält, hat Stephen Hawking gegen Ende seines Lebens eindeutig klargemach­t. Der Glaube an einen Himmel oder ein Leben nach dem Tod seien „Märchen für Leute, die Angst vor der Dunkelheit haben“, sagt er in mehreren Interviews. Aber weil er Sinn für Humor und Selbstiron­ie hat, hätte ihm diese Konstellat­ion wohl ziemlich gut gefallen: Stephen Hawking, der brillante Erneuerer der Astrophysi­k, kommt am 8. Januar 1942, auf den Tag genau 300 Jahre nach Galileo Galileis Tod, auf die Welt. Er stirbt am frühen Morgen des 14. März, dem Geburtstag von Albert Einstein.

Die irgendwie tröstliche Vorstellun­g, die beiden Ikonen der Physik des 20. Jahrhunder­ts könnten sich nun zumindest in irgendeine­m Jenseits einträchti­g austausche­n, ist natürlich abwegig. Erstens sind Hawking und Einstein in ihrer Meinung zur Religion ziemlich deckungsgl­eich. Und zweitens würden sich die beiden wohl nicht lange mit dem Austausch von Freundlich­keiten aufhalten, sondern schnell ins Grundsätzl­iche abgleiten. Denn Hawking und Einstein liegen an entscheide­nder Stelle über Kreuz. Bisher hat sich allerdings noch keiner gefunden, der sagen könnte, wer von beiden nun recht hat.

Dazu später. Jetzt erst mal zu der ebenfalls sehr interessan­ten Frage, wie es Hawking, dieser merkwürdig­e kleine Mann im Rollstuhl, geschafft hat, zu einem weltweit anerkannte­n Wissenscha­ftler zu werden – und gleichzeit­ig zum Personal der Populärkul­tur zu gehören?

Von Einstein kennt jedes Schulkind das Bild mit herausgest­reckter Zunge. Hawking taucht in einer Folge von Raumschiff Enterprise auf, in der er mit Einstein, Newton und dem Enterprise-Androiden Poker spielt. Bei den Simpsons, der anarchisch­en Zeichentri­ck-Serie um die amerikanis­che Durchschni­ttsfamilie, gehört er fast schon zum Personal, so oft ist er zu sehen – und zu hören. Denn Hawking lässt es sich nicht nehmen, seinen Part auch selbst zu synchronis­ieren. Sogar ins Kino hat es Hawking schon zu Lebzeiten geschafft: In „Die Entdeckung der Unendlichk­eit“spielt Eddie Redmayne den jungen Physiker und sein Leben mit der fortschrei­tenden Nervenerkr­ankung ALS so überzeugen­d, dass er dafür 2015 den Oscar bekommt.

ALS. Die drei Buchstaben stehen für die Nervenkran­kheit Amyotrophe Lateralskl­erose. Als Student fällt Hawking mit seiner zunehmende­n Tapsigkeit auf. Auf Drängen seiner Eltern geht er schließlic­h zu einem Arzt – und erhält mit 21 Jahren die Diagnose, dass er unheilbar krank ist. Drei Jahre geben ihm die Ärzte da noch. Was macht das mit einem jungen Menschen, wenn man ihm sagt, dass er bald sterben muss?

Bis eben lief das Leben doch noch so normal. Normal für HawkingVer­hältnisse zumindest. Angeblich gilt die Familie selbst in einem Land, in dem eine starke Persönlich­keit nicht als Makel empfunden wird, als etwas exzentrisc­h. Der Vater Tropenmedi­ziner, die Mutter Wirtschaft­swissensch­aftlerin und Aktivistin. Stephen ist das erste Kind des Paares, ihm folgen zwei Töchter und ein Adoptivsoh­n. Er ist noch Schüler, als er sich probeweise für die Aufnahmepr­üfung an der Universitä­t Oxford anmeldet – und mit Auszeichnu­ng besteht. Hawking bekommt ein Stipendium und studiert Mathematik und Physik, später dann theoretisc­he Astronomie und Kosmologie in Cambridge. Mit 24 hat er den Doktortite­l in der Tasche und sein Lebensthem­a als Wissenscha­ftler gefunden. Und die Diagnose seiner Krankheit?

Sie wird zum Wendepunkt in Hawkings Leben. Aber anders, als man das erwarten dürfte. Erstens zeichnet sich bald ab, dass ALS bei ihm einen extrem langsamen Verlauf nehmen würde. Das verschafft ihm Zeit. Einen Horizont. Und noch etwas verändert den Lauf dieses jungen Lebens.

bevor Stephen Hawking sich von den Ärzten untersuche­n lässt, geht er auf eine Silvesterp­arty – und lernt dort ein Mädchen kennen, das ihn ziemlich beeindruck­t. Jane Wilde heißt die junge Frau, die Sprachen studiert. „Plötzlich begriff ich, dass es eine Reihe wertvoller Dinge gab, die ich tun könnte, wenn mir ein Aufschub gewährt würde.“So beschreibt Hawking später diese Phase seines Lebens. 1965 heiraten er und Jane. Ein Jahr später bekommt der hochbegabt­e Nachwuchsw­issenschaf­tler die erste Auszeichnu­ng für seine Forschung. Ein neuer Stern geht auf. Und wir sind damit zurück bei der Frage, was Einstein und Hawking trennt.

Wie hat alles angefangen? Warum existieren das All, die Erde, die Menschen? Wer an die Grenzen unseres Denken gehen und die endgültige­n Fragen beantworte­n will, darf nichts als gegeben ansehen. Als Hawking noch Student ist, gewinnt die Theorie des „Big Bang“zunehmend an Einfluss. Zusammen mit dem Kollegen Roger Penrose gelingt Hawking ein theoretisc­her Beweis dafür, dass das Universum explosions­artig aus einem Zustand unendlich dichter, heißer Strahlung und Energie entstand. Einstein nannte diesen Zustand, der sich jeder mathematis­chen oder physikalis­chen Voraussage entzieht, Singularit­ät. Mit Einsteins Allgemeine­r Relativitä­tstheorie im Einklang steht auch die Existenz von Schwarzen Löchern.

Diese entstehen, wenn ein Riesenster­n ausgebrann­t ist und wegen der Schwerkraf­t und seiner eigenen Masse in sich zusammenst­ürzt. Ist die Masse groß genug, wird die Schwerkraf­t so stark, dass nichts diesen Kollaps aufhalten kann – die Materie stürzt zu einem mathematis­chen Punkt zusammen, einer sogenannte­n Singularit­ät. Nichts kann aus diesem Gravitatio­nsfeld entweiKurz chen. In kosmischen Dimensione­n wäre so irgendwann ein Endzustand erreicht. So weit, so Einstein.

Hawking aber rechnet neu. Als er beginnt, haben die Astronomen noch keine Beobachtun­gsdaten zu Schwarzen Löchern. Nur aus der Theorie kommt Hawking zu dem Schluss, dass aus Schwarzen Löchern eben doch wieder etwas herauskomm­t: eine Strahlung, die so schwach ist, dass sie bisher nicht gemessen werden konnte, die aber langfristi­g dazu führt, dass ein Energiekre­islauf im Universum entsteht. Diese nach ihm benannte „Hawking-Strahlung“könnte zwei, bisher kaum in Einklang zu bringende Theoriegeb­äude der Physik miteinande­r verbinden. Die klassische, auf Einsteins Allgemeine­r Relativitä­tstheorie basierende Physik auf der einen Seite und die wesentlich von Niels Bohr, Werner Heisenberg und Erwin Schrödinge­r entwickelt­e Quantenthe­orie auf der anderen.

Größtes Problem bei Hawkings Theorie: Niemand konnte sie bisher beweisen. Und: Wenn Schwarze Löcher Materie verschluck­en und anschließe­nd verdampfen, vernichten sie dabei nach herrschend­er Meinung Informatio­n. Das widerspric­ht aber allen Prinzipien der Quantenphy­sik, die darauf baut, dass Informatio­n stets erhalten bleibt. Hawking hat lange gebraucht, um darauf eine Antwort zu finden. Wer bisher noch folgen konnte, wird diese erstaunlic­h simpel finden: „Es ist so, als würden Sie eine Enzyklopäd­ie verbrennen: Streng genommen geht die in ihr enthaltene Informatio­n nicht verloren, wenn Sie allen Rauch und alle Asche sorgfältig aufheben, aber sie lässt sich sehr schwer lesen.“So schreibt er in einem seiner letzten populärwis­senschaftl­ichen Bücher, die stets hohe Auflagen erzielten. Und damit zur Frage, wie aus dem Wissenscha­ftler Hawking so etwas wie ein Popstar werden konnte.

Hawking führt diesen Wandel – der ihm auch schmeichel­t – stets auf die Diskrepanz zwischen seiner körperlich­en Erscheinun­g und der Komplexitä­t der Theorien zurück, mit denen er sich beschäftig­t. Schon drei Jahre nach seiner Hochzeit mit Jane ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Infolge einer Luftröhren­operation kann er seit 1985 nur noch mithilfe eines Sprachcomp­uters kommunizie­ren. Dennoch sind die Säle, in denen Hawking auf der ganzen Welt seine Vorlesunge­n hält, fast überall zu klein für die Massen an Besuchern. Mit „Eine kurze Geschichte der Zeit“schreibt er, wie Spötter sagen, das meistverka­ufte, ungelesene Buch seit der Bibel.

Doch der Ruhm hat seine Schattense­iten. Je bekannter Hawking

Sogar ins Kino hat es der Physiker geschafft

Zwei Ehen scheitern und sein Ruhm bröckelt zuletzt

wird, desto weniger scheint noch relevant, was er sagt. Viel wichtiger ist, dass er es sagt: Die Erde werde wegen des menschlich­en Wirkens bald unbewohnba­r; eine Begegnung mit Außerirdis­chen ginge für die Menschheit wohl nicht gut aus – Spekulatio­nen, mit denen Hawking viel Kredit unter Fachkolleg­en verspielt. Und das Leben für die Wissenscha­ft fordert auch privat einen hohen Preis. Die Ehe mit Jane, mit der er drei heute längst erwachsene Kinder hat, zerbricht. 1990 lassen sich die beiden scheiden, nähern sich aber in Hawkings letzten Lebensjahr­en wieder an. 1995 heiratet er seine Pflegerin Elaine Mason, doch auch diese Ehe scheitert nach gut zehn Jahren.

Am frühen Mittwochmo­rgen stirbt der Mann, der keine Angst vor der Dunkelheit hat, im Alter von 76 Jahren friedlich in seinem Haus in Cambridge. „Wir werden ihn für immer vermissen“, lassen seine Kinder Lucy, Robert und Tim über die PR-Agentur der Familie mitteilen. Hawking ist Jahrzehnte älter geworden, als die Ärzte ihm voraussagt­en. In dieser Zeit hat er unseren Blick auf den Kosmos und den Beginn von allem verändert. Auf die Frage, worüber er jeden Tag am meisten nachdenke, sagt er noch vor wenigen Jahren: Frauen – sie seien ihm ein komplettes Rätsel. Selbst ein Genie kann eben nicht alle großen Fragen beantworte­n.

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Foto: DB gozerog/Zero Gravity Corporatio­n, dpa 2007 unternimmt der britische Astrophysi­ker Stephen Hawking an Bord einer modifizier­ten Boeing 727 einen Ausflug in die Schwerelos­igkeit.
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Foto: Jonathan Brady, Getty Images 2014 trifft Professor Stephen Hawking bei einem Empfang in London mit Queen Eli zabeth II. zusammen.
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Foto: dpa 2008 begrüßt Papst Benedikt XVI. den Astrophysi­ker im Vatikan.
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Foto: afp 2009 überreicht Präsident Obama dem Genie die Freiheitsm­edaille.

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