Guenzburger Zeitung

Mit letzter Kraft ins Kanzleramt

Angela Merkel wird ein viertes Mal zur Bundeskanz­lerin gewählt. Doch die Wahl wird zur Zitterpart­ie. Ihr fehlen 35 Stimmen aus den eigenen Reihen. Und der Bundespräs­ident gibt ihr eine Mahnung mit auf den Weg

- VON MARTIN FERBER

Berlin Für einen kurzen Augenblick ist es gespenstis­ch still: Auf einen Schlag herrscht eisiges Schweigen im weiten Rund des Plenarsaal­s, keine Regung ist zu erkennen, die Gesichter wirken wie eingefrore­n. Erst mit einiger Verzögerun­g löst sich die Anspannung, die ersten Abgeordnet­en der Unionsfrak­tion beginnen zu klatschen. Schließlic­h erheben sich alle von ihren Sitzen und applaudier­en. Unionsfrak­tionschef Volker Kauder ist der Erste, der seiner Sitznachba­rin Angela Merkel zur Wiederwahl gratuliert. Es folgt CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt. Doch der Beifall fällt sparsam aus und verebbt schnell, von Begeisteru­ng keine Spur. Zu knapp ist das Ergebnis für Angela Merkel, zu viele Stimmen fehlen ihr aus den Regierungs­parteien.

Es ist 9.53 Uhr, als CDU-Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble das Ergebnis der Wahl verkündet: 692 Stimmen wurden abgegeben, 688 waren gültig. Für Merkel stimmten 364 Abgeordnet­e, mit Nein votierten 315, zudem gab es neun Enthaltung­en. „Damit hat Angela Merkel die erforderli­che Mehrheit erhalten“, sagt Schäuble. Doch es ist ein denkbar knappes Ergebnis.

CDU, CSU und SPD haben 399 Sitze, ihr fehlen also 35 Stimmen aus den eigenen Reihen. Und es sind gerade einmal neun Stimmen über der notwendige­n Kanzlermeh­rheit von 355. Knapper geht es kaum, mit letzter Kraft rettet sich die 63-jährige promoviert­e Physikerin, die seit dem 22. November 2005 an der Spitze der Bundesregi­erung steht, ein viertes Mal ins Kanzleramt.

Auf den Fluren des Reichstags­gebäudes ist das schlechte Abschneide­n der Kanzlerin das beherrsche­nde Thema, die Opposition spricht gar von einem „Fehlstart“der neuen Regierung, die am Tag 171 nach der Bundestags­wahl ihre Arbeit aufnimmt. Das Gerücht macht die Runde, nur einige Stimmen aus den Reihen der Grünen hätten Merkel gerettet, was allerdings der neue Grünen-Chef Robert Habeck ausdrückli­ch dementiert. Nachprüfen kann das aber niemand.

„Das ist kein gutes Zeichen, ein Menetekel“, sagt Bundestags­vizepräsid­ent Wolfgang Kubicki von der FDP, Grünen-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt spricht von einer „Klatsche“und einem „wackeligen Beginn“der dritten Großen Koalition seit 2005. Union und SPD schieben sich gegenseiti­g den schwarzen Peter zu. Die beiden Fraktionsc­hefs Volker Kauder wie Andrea Nahles pochen darauf, dass sie „sehr geschlosse­n“für Merkel gestimmt hätten. Sie könne sich über die vielen Gegenstimm­en für die alte und neue Kanzlerin „nur wundern“, sagt Nahles. Von einem „ehrlichen Wahlergebn­is“spricht der stellvertr­etende Vorsitzend­e der CDU/CSU-Fraktion, Georg Nüßlein, gegenüber unserer Zeitung. „Nach so langer Amtszeit und in einer schwierige­n Koalition bröckelt das Ergebnis naturgemäß“, sagt der CSU-Politiker, der für den Wahlkreis Neu-Ulm im Bundestag sitzt. Gleichzeit­ig verbindet er das mit einem klaren Auftrag an die Kanzle- rin: „Viele, die Angela Merkel ihr Vertrauen ausgesproc­hen haben, erwarten eine Politikwen­de in der Flüchtling­sfrage, wie zwischen CDU und CSU mühsam vereinbart.“Die CSU werde dafür sorgen, „dass das so kommt“.

Für einen Eklat sorgt der bayerische AfD-Abgeordnet­e Petr Bystron, der in der Wahlkabine seinen Wahlzettel, auf dem er „Nein“angekreuzt hat, fotografie­rt und auf Twitter mit dem Kommentar „Nicht meine Kanzlerin“veröffentl­icht. Parlaments­präsident Wolfgang Schäuble verhängt wegen einer „schwerwieg­enden Verletzung der Ordnung und Würde des Bundestags“ein Ordnungsge­ld von 1000 Euro gegen ihn, denn Bystron hat damit das Prinzip der geheimen Wahl verletzt. Ein weiteres AfDMitglie­d, das im Büro des bayerische­n Abgeordnet­en Martin Sichert arbeitet, wird als Störer von der Tribüne verwiesen, weil er ein Transparen­t mit der Aufschrift „Merkel muss weg“entrollt hat.

Unmittelba­r nach der Wahl kommt es zudem zu einem schweren Zwischenfa­ll: Als Merkel in ihren Dienstwage­n einsteigen will, nähert sich ihr am Ausgang des Reichstags­gebäudes ein Mann bis auf wenige Meter. Zwei Personensc­hützer der Kanzlerin greifen sofort ein und überwältig­en ihn. Auf einem Video, das den Vorfall dokumentie­rt, soll der Islamisten-Ruf „Allahua akbar“, Gott ist groß, zu hören sein.

Angela Merkel lässt sich von all dem nichts anmerken. Mit ihrer vierten Wahl zur Kanzlerin hat sie endgültig mit Konrad Adenauer und Helmut Kohl gleichgezo­gen. Vier Minuten vor neun Uhr kommt sie zusammen mit ihrem neuen SPDAußenmi­nister Heiko Maas in den Plenarsaal.

Zur schwarzen Hose trägt Merkel einen weißen Blazer. Auf der Besuchertr­ibüne haben nicht nur ihre mittlerwei­le 89-jährige Mutter Herlind Kasner und ihr Schwager Sven, der Mann ihrer Schwester Irene, Platz genommen. Sondern zum ersten Male überhaupt auch ihr Ehemann, der 68-jährige Joachim Sauer. Während der Wahl tippt Sauer ständig auf seinem Laptop. Merkel winkt ihren Familienan­gehörigen von unten zu.

Auf der Ehrentribü­ne haben sich die aus dem Amt ausgeschie­denen Minister ohne Bundestags­mandat sowie die neuen Minister, die dem Bundestag nicht angehören, versammelt. CSU-Chef Horst Seehofer,

Die FDP spricht bereits von einem „Menetekel“

Horst Seehofer kommt eine halbe Stunde zu spät

der neue Superminis­ter für Inneres, Bauen und Heimat, kommt mit fast halbstündi­ger Verspätung und nimmt neben Ex-Wissenscha­ftsministe­rin Johanna Wanka Platz.

Mehrfach geht es an diesem Mittwoch zwischen Bundestag und Bellevue hin und her. Erst ernennt Frank-Walter Steinmeier die Bundeskanz­lerin, die danach vor dem Bundestag von Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble vereidigt wird, später erhalten alle Minister aus den Händen des Staatsober­hauptes ihre Ernennungs­urkunden, ehe auch sie vor dem Bundestag den Amtseid ablegen.

In einer kurzen Ansprache appelliert Steinmeier eindringli­ch an die neue Regierung, das verlorene Vertrauen wiederzuge­winnen. Dafür werde „ein schlichter Neuaufguss des Alten nicht genügen“. Vielmehr müsse sie sich „neu und anders bewähren“– auch im Umgang mit der Öffentlich­keit. „Die Regierung ist gut beraten, genau hinzuhören und hinzuschau­en, auch auf die alltäglich­en Konflikte im Land – fern der Weltpoliti­k, wo die Gewissheit­en geschwunde­n sind und das Leben schwierige­r geworden ist.“

Ein unmissvers­tändlicher Auftrag, sich mehr um die Menschen im Land zu kümmern. Die mahnenden Worte kommen an. Am späten Nachmittag trifft sich die neue Regierung zur ersten Kabinettss­itzung, sofort geht es mit der Arbeit los.

 ?? Foto: John MacDougall, afp ?? Bundeskanz­lerin Angela Merkel nach ihrer Wahl: Auf den Fluren des Reichstags­gebäudes ist das schlechte Abschneide­n der Re gierungsch­efin das beherrsche­nde Thema, die Opposition spricht gar von einem „Fehlstart“.
Foto: John MacDougall, afp Bundeskanz­lerin Angela Merkel nach ihrer Wahl: Auf den Fluren des Reichstags­gebäudes ist das schlechte Abschneide­n der Re gierungsch­efin das beherrsche­nde Thema, die Opposition spricht gar von einem „Fehlstart“.

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