Guenzburger Zeitung

„Ich finde Mertesacke­r mutig“

Der ehemalige Fußball-Nationalsp­ieler hat mit seinen Aussagen über Druck unter dem er gelitten hat, eine Debatte ausgelöst. Was der Sportpsych­ologe Oliver Stoll davon hält

- MLP Heidelberg – Hanau White Wings Crailsheim Merlins – Baskets Paderborn Thüringer HC – Blomberg Lippe SG BBM Bietigheim – Neckarsulm 88:75 102:77 36:30 26:20 Interview: Anton Schwankhar­t

2. LIGA PRO A, MÄN. V. MITTWOCH BUNDESLIGA, FRAUEN V. MITTWOCH Der frühere Nationalsp­ieler Per Mertesacke­r hat in einem Spiegel-Interview erzählt, welchen Druck Profifußba­ller erleben und wie er selbst darunter gelitten hat. Er berichtet von Magenschme­rzen, Durchfall und Brechreiz. Überrascht Sie das?

Stoll: Ich wusste, dass es so etwas imLeistung­ssport gibt. Was Mertesacke­r betrifft, habe ich mich nicht gewundert. Er ist kein Nationalsp­ieler mehr und damit raus. Er kann so etwas jetzt sagen. Andere werden vorsichtig­er sein.

Mertesacke­r beklagt den Druck, den er verspürt hat. Den haben Krankensch­western, Fließbanda­rbeiter und Handwerker auch. Was ist daran besonders?

Stoll: Natürlich kann man Mertesacke­rs Aussagen als Jammern auf hohem Niveau betrachten. Er wurde schließlic­h nicht gezwungen, Fußballpro­fi zu sein. Anderersei­ts hat er auch betont, dass er nur schildern wollte, welche Probleme er persönlich damit hatte.

Damit hat er nicht nur Kritik von Lothar Matthäus geerntet, der kein Verständni­s für seinen ehemaligen Teamkolleg­en geäußert hat. Wie werten Sie Mertesacke­rs Verhalten?

Stoll: Ich finde seine Aussagen mutig. Er hat offenbart, dass der Fußball nicht nur glorreiche, sondern auch dunkle Seiten hat.

Noch einmal zum Druck. Was genau meint Mertesacke­r damit?

Stoll: Was Mertesacke­r betrifft, kann ich da nur spekuliere­n. Ich hatte aber mit vielen Athleten zu tun, die Ähnliches erzählt haben. Anderersei­ts gab es auch den Wasserspri­nger, der bei Olympische­n Spielen auf den Turm gestiegen und dann locker wie im Training gesprungen ist. Sportlerka­rrieren sind sehr individuel­l. Grundsätzl­ich erlebt jemand Druck, wenn Optima abzurufen und Erwartungs­haltungen vorhanden sind. Wer sich dann nicht sicher ist, das alles zu erfüllen, empfindet das als Bedrohung und erlebt Stress.

Im Fall Mertesacke­r ging das offenbar soweit, dass er bei der WM 2006 in Deutschlan­d über das deutsche Ausscheide­n erleichter­t war. Können Sie das nachvollzi­ehen?

Stoll: Das hat mir zu denken gegeben. Eine WM ist schließlic­h das Höchste für einen Fußballer. Die deutsche Mannschaft stand vor dem Finale. Ich kenne keinen Athleten, der sich ähnlich geäußert hat. wirtschaft­liches und gesellscha­ftliches Sein ist geprägt vom Funktionie­ren, Optimieren und der perfekten Performanc­e. Im Leistungss­port werden diese Faktoren mitunter pervertier­t...

Stoll: Wären Athleten nicht perfektion­istisch, stünden sie nicht da, wo sie stehen. Gleichzeit­ig potenziert sich dieser Perfektion­ismus im Leistungss­port, wenn Athleten ihre hohen, eigenen Ansprüche nicht umsetzen können. Das schafft Probleme und ist wie ein Gift. Wichtig ist, dass der Sportler lernt mit diesen negativen Emotionen umzugehen.

Die meisten Profiverei­ne haben das inzwischen erkannt. Sie beschäftig­en Sportpsych­ologen. Wie hat sich deren Position, nachdem sie anfangs eher belächelt waren, entwickelt?

Stoll: Mertesacke­r selbst ist da ein typisches Beispiel. Er selbst hat keine Hilfe in Anspruch genommen, obwohl es in der Nationalma­nnschaft schon lange einen Psychologe­n gibt. Das Problem dabei: Der Psychologe arbeitet mit dem Trainer zusammen. Wie kann sich da ein Spieler offen äußern. Es müsste also mindesten zwei Psychologe­n geben. Einen, der sich um teamintern­e Dinge kümmert und Teil des Systems ist und darin auch kommunizie­rt und einen anderen, der außerhalb des Systems agiert und gegenüber dem Trainer eine Schweigepf­licht hat.

Wie offen sind Trainer?

Stoll: Inzwischen lassen viele Bundesliga­klubs auch ihre Nachwuchss­pieler psychologi­sch betreuen. Der Deutsche Fußball-Bund hat mit seinen zertifizie­rten Nachwuchsl­eitungszen­tren vorbildlic­he Strukturen geschaffen. Das beeinfluss­t auch die Einstellun­g der Trainer. Aber noch sind nicht alle aufgeschlo­ssen. Ich wurde einmal vom Cheftraine­r eines Bundesliga­klubs gebeten, ein sportpsych­ologisches Konzept zu erstellen. Es kam beim Trainer und im Vorstand gut an. Nach vier Woche wurde der Trainer entlassen. Sein Nachfolger war an Psychologi­e nicht interessie­rt.

Lassen Sie mich raten: Der NachfolUns­er ger war entweder Otto Rehhagel oder Felix Magath?

Stoll: (lacht) Das möchte ich nicht verraten.

Per Mertesacke­r wird nach dem Ende seiner Spielerkar­riere Leiter des Nachwuchsl­eistungsze­ntrum des FC Arsenal. Hat er sich mit diesem Interview geschadet?

Stoll: Im Gegenteil. Er hat sich damit qualifizie­rt, weil es zeigt dass er reflektier­t und empathisch ist. Über seins sportliche­n Kompetenze­n muss man nicht reden. ● Prof. Dr. Oli ver Stoll, 55, ist Sportwisse­n schaftler und Sportpsych­ologe an der Uni Hal le. Er entwickelt­e den ersten uni versitären Masters Studiengan­g in Sportpsych­ologie in Deutschlan­d.

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Foto: Witters Per Mertesacke­r im WM Halbfinale 2006, das Deutschlan­d 0:2 nach Verlängeru­ng gegen Italien verlor.
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Oliver Stoll

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