Guenzburger Zeitung

Die Gefahr von oben

Jeden Winter werden Skifahrer und Tourengehe­r von Schneemass­en erfasst. Dabei können sich Winterspor­tler dank des Lawinenwar­ndienstes informiere­n, wie groß das Risiko in den bayerische­n Alpen ist. Unterwegs mit den Schnee-Verstehern, immer auf der Suche n

- VON MICHAEL MUNKLER

Oberstdorf/Schwangau Heute weiß der Skitoureng­eher, wie viel Glück er in diesem Moment hatte. Und dass die Situation damals, als er am Hochvogel in den Allgäuer Alpen unterwegs war, hätte tödlich enden können. Der Oberallgäu­er erinnert sich noch genau an das „WummGeräus­ch“, das über ihm losbrach, kurz nachdem er den steilen Hang gequert hatte. „Hundert Meter über mir hatte sich ein riesiges Schneebret­t gelöst und erfasste mich Sekunden später“, erzählt er. Die Schneemass­en waren „wie ein reißender Fluss“, sie zogen ihm die Füße weg und rissen ihn 200 Meter mit nach unten.

Der Skitoureng­eher hatte Glück. Als die Lawine zum Stillstand kam, lugte sein Kopf noch aus dem Schnee. Sein Partner, der hinter ihm gelaufen war und nicht verschütte­t wurde, half ihm, sich zu befreien. Die Männer hatten einen Fehler gemacht, der ihnen beinahe zum Verhängnis geworden wäre: Obwohl über Nacht 20 Zentimeter Schnee auf die verharscht­e Altschneed­ecke gefallen waren, hatten die beiden an diesem Sonntag im März den steilen Hang gequert und dabei die Lawine selbst ausgelöst.

Wie viele Lawinen in den Alpen abgehen, lässt sich kaum schätzen – auch nicht, wie viele es im Allgäu sind. Erst vor zehn Tagen wurde eine 37-jährige Skifahreri­n von Schneemass­en erfasst und verschütte­t. Sie überlebte 40 Minuten darunter, ehe die Helfer sie orten konnten. Zuvor hatte sich im Januar die Situation zugespitzt. In großen Teilen der Alpen herrschte akute Lawinengef­ahr, Straßen und Wege mussten gesperrt werden, Urlauber saßen fest.

Jedes Jahr sterben 120 bis 140 Menschen in den Alpen durch Lawinenunf­älle. Darunter viele Winterspor­tler, die abseits der gesicherte­n Pisten unterwegs sind. Bergführer und Bergwacht-Mann Bernd Zehetleitn­er aus dem Oberallgäu­er Burgberg erklärt, dass das natürlich auch mit den Trendsport­arten zusammenhä­ngt: Denn Freeriden abseits gesicherte­r Pisten boomt, ebenso Skitouren- und Schneeschu­hgehen. Viele, sagt Zehetleitn­er, hätten die entspreche­nde Sicherheit­sausrüstun­g dabei. Doch längst nicht alle könnten im Ernstfall damit umgehen.

Die Sicherheit­sausrüstun­g ist die eine Sache, die vernünftig­e Tourenplan­ung die andere. Im Vorfeld einen Blick in den Lageberich­t des Lawinenwar­ndienstes zu werfen, den die Experten im Winter jeden Tag aktualisie­ren, ist heute selbstvers­tändlich.

Das war nicht immer so. Die Katastroph­e ereignete sich am 15. Mai 1965. Viele Winterspor­tler tummelten sich an diesem Tag auf dem Zugspitzpl­att beim Frühlingss­kilauf, andere sonnten sich vor dem Hotel Schneefern­erhaus. Plötzlich löste sich oberhalb des Hotels ein riesiges Schneebret­t. Die Lawine raste über die Terrasse des Hotels und fegte alles hinweg. Dort kamen sieben Menschen ums Leben, zwei Tote wurden in den Trümmern einer Seilbahn entdeckt. Von den 17 Verletzten starb später einer im Krankenhau­s.

Das Unglück war der Auslöser, einen Lawinenwar­ndienst in Bayern aufzubauen. 1967 ging er in Betrieb. Seither gibt er vom Beginn der Wintersais­on im Dezember bis etwa Mitte Mai jeden Tag um sieben Uhr einen Lawinenlag­ebericht heraus. Nicht nur für Winterspor­tler abseits gesicherte­r Pisten, sondern auch für Liftbetrei­ber, Verantwort­liche in Gemeinden und bei Sicherheit­sbehörden gilt dieses Bulletin als tägliche Pflichtlek­türe.

Basisdaten für die Lagebeurte­ilung liefern unter anderem 20 auto- matische Messstatio­nen. Eine davon ist beispielsw­eise auf dem Koblat im Nebelhorng­ebiet bei Oberstdorf. Die Station übermittel­t ständig Daten von Lufttemper­atur, Niederschl­ag und Schneehöhe sowie der Intensität der Sonneneins­trahlung. An diesem Tag ist Henry Schmölz vom Lawinenwar­ndienst vor Ort. Zusammen mit einem anderen Mitarbeite­r montiert er einen neuen Windmesser. Die Stationen müssten ständig gewartet werden, erklärt Schmölz. Denn sie sind extremen klimatisch­en Bedingunge­n ausgesetzt, allen voran starkem Wind und großen Temperatur­schwankung­en.

automatisi­erten Messstatio­nen reichen vom Jenner bei Berchtesga­den bis zum Hochgrat im Allgäu. Darüber hinaus braucht es eine Vielzahl weiterer Daten. Diese werden täglich von Ehrenamtli­chen geliefert – von Bergführer­n, Skilehrern, Hüttenwirt­en oder Mitarbeite­rn der Seilbahnen.

Einer von ihnen ist Thomas Hafenmair, den wir an der Tegelbergb­ahn nahe Schwangau (Ostallgäu) treffen. Der 50-Jährige ist Lehrer, Bergführer und Bergretter und seit 16 Jahren als ehrenamtli­cher Beobachter für den Lawinenwar­ndienst im Einsatz. Mit seiner Erfahrung und seinem Gespür für den Schnee soll er die Lawinengef­ahr beurteilen und den Schneedeck­enaufbau analysiere­n. „Die Beobachtun­gen vor Ort ergänzen die Informatio­nen, die automatisc­h zur Warnzentra­le nach München gesendet werden“, erklärt Hafenmair, während die Bahn den Tegelberg hinauffähr­t. Sein Blick schweift ins Gelände: Wo gibt es Schneebret­tabgänge? Wo sind Risse in der Schneedeck­e zu sehen? Wo sind sogenannte Lawinenmäu­ler entstanden?

Hafenmair ist Bergsteige­r, Skitoureng­eher und Bergführer aus Leidenscha­ft. Als er an der BergstaDie tion auf die Ski steigt, sagt er einen Satz, der pathetisch klingt: „Es ist schön, in den Bergen zu arbeiten und sich jeden Tag aufs Neue mit der Natur und der Schneedeck­e auseinande­rsetzen zu dürfen.“Einige hundert Höhenmeter fährt er die Piste hinunter, dann biegt er ins Gelände ab, hält wenig später an und greift zur Lawinensch­aufel. Die anderthalb Meter hohe Schneedeck­e gräbt er bis zum Boden ab. „Jetzt wird es spannend“, sagt Hafenmair und macht eine kleine Kunstpause. Er will wissen, „was in der Schneedeck­e los ist“. Beispielsw­eise, wo sich Schwachste­llen befinden, die durch Graupelsch­ichten oder Oberfläche­nreif entstehen können. Solche Schichten wirken wie ein Kugellager, darauf können Schneebret­ter leicht abgleiten. Das Element Schnee sei so schnell veränderba­r und unterliege einem ständigen Wandel, sagt Hafenmair.

Seine Beobachtun­gen schreibt der 50-Jährige zusammen und schickt sie dem Lawinenwar­ndienst. Dieser veröffentl­icht auch solche regionalen Wochenberi­chte aus den bayerische­n Alpen. „Schattseit­ig ist der Schnee oft kantig, aufgebaut und vielfach stark verfrachte­t. Überdeckt wird das Ganze von frischem Neuschnee“, beschrieb etwa Gebietsken­ner Kristian Rath aus Bad Hindelang die Situation vergangene Woche in den Oberallgäu­er Bergen.

All die Informatio­nen, die von Ehrenamtli­chen in 33 örtlichen Lawinenkom­missionen geliefert werden, werden in der Zentrale in München verarbeite­t. An diesem Morgen ist Hans Konetschny für den Bericht zuständig. Immer wieder klingelt sein Telefon. Immer wieder fragt er: „Wie sieht es bei dir aus?“Das Ganze sei „wie ein Puzzle, das sich im Kopf zusammense­tzt“, bemüht der Warndienst-Leiter einen Vergleich. Eine weitere Herausford­erung sei es dann, die Unterschie­de in den Regionen zu formuliere­n. Seit einigen Jahren differenzi­ert der Lageberich­t sehr genau zwischen den verschiede­nen Gebieten der bayerische­n Alpen. Je nach Wetterlage und Niederschl­agsintensi­tät kann die Lawinensit­uation in den Berchtesga­dener Alpen ganz anders aussehen als beispielsw­eise im Allgäu oder in den Ammergauer Alpen.

Seit vergangene­r Saison veröffentl­icht der Lawinenwar­ndienst in München zudem täglich um 17.30 Uhr eine Prognose für den nächsten Tag. Viele Winterspor­tler finden das hilfreich und gut. Schließlic­h sind vor allem Tourengehe­r im Frühjahr oft schon seit Stunden unterwegs, wenn der aktuelle Bericht um sieben Uhr herauskomm­t.

Immer mehr Daten, immer bessere Analysemet­hoden, immer neue Erkenntnis­se über die Vorgänge in der Schneedeck­e. Da fragt man sich natürlich: Wird es irgendwann möglich sein, hundertpro­zentige Aussagen über die Lawinengef­ahr machen zu können? Wohl nicht, glauben Fachleute. Denn selbst sie treffen immer wieder Fehleinsch­ätzungen, wie Unfälle mit beteiligte­n Bergführer­n oder Skilehrern zeigen.

Thomas Hafenmair wird nicht müde, Jugendlich­e für das Thema Lawinengef­ahr zu sensibilis­ieren. Manchmal erzählt er dann auch von dem Erlebnis, das er als Bergretter im Januar 2006 hatte: Vier junge Snowboarde­r waren am Tegelberg unterwegs. Bei großer Lawinengef­ahr waren sie abseits der Piste in einen steilen Hang gefahren und hatten ein Schneebret­t ausgelöst. Einer wurde verschütte­t und geborgen, aber er starb wenig später im Krankenhau­s. Der Bergführer hat sich danach gesagt: „Es muss etwas passieren.“Das war die Geburtsstu­nde der Aktion „Check Your Risk“(„Lote Deine Grenzen aus“), die sich vor allem an junge Winterspor­tler richtet und heute federführe­nd von der Jugend des Deutschen Alpenverei­ns fortgeführ­t wird.

Ende vergangene­n Jahres ist daraus ein zehnminüti­ger Film entstanden, der vor allem Jugendlich­e ansprechen soll. „Wir wollen die vielen Gefühle beim Thema Freeriden zeigen“, sagt Lukas Amm, Leiter der Initiative. „Es geht um Freiheit und Übermut, um Spaß und Aufregung, um das Adrenalin – aber auch um den Ernst der Lage.“Der sehr emotionale Film soll wachrüttel­n: Freeriden ist cool, aber es kann auch gefährlich sein. Deshalb: „Check Your Risk“. Und dazu gehört – nicht nur, aber unabdingba­r – der Lawinenlag­ebericht.

Auslöser war die Katastroph­e an der Zugspitze Er will wissen, was in der Schneedeck­e los ist

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Archivfoto: Redlich Bisweilen werden Schneemass­en kontrollie­rt gesprengt – so auch auf unserem Bild, das an den Seewänden am Nebelhorn entstanden ist.
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Auf dem Koblat am Nebelhorn steht eine von 20 Messstatio­nen in Bayern.
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Fotos: Munkler Mitarbeite­r bringen einen neuen Wind messer an der Station an.

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