Guenzburger Zeitung

„Es ist Gold wert, wenn ihr eine Oma habt“

Artur Geis, Leiter der Kinder- und Jugendhilf­e im Kreis, über Fehler in der Familienpo­litik, die Vereinbark­eit von Familie und Beruf sowie über Probleme bei der Kinderbetr­euung und der Umsetzung der Inklusion

- Interview: Stefan Reinbold

Herr Geis, der Landkreis Günzburg schmückt sich mit dem Titel Kinderund Familienre­gion. Wie familienfr­eundlich ist der Landkreis?

Artur Geis: Ich glaube, dass der Landkreis sehr viel tut, um die Situation von Familien zu verbessern. Die Situation von Familien im Landkreis Günzburg stellt sich im Wesentlich­en nicht anders dar als im Rest des Landes. Mir erscheint das, was die neue Große Koalition jetzt im Koalitions­vertrag an familienpo­litischen Maßnahmen vereinbart hat, eher als Reparaturw­erkstatt denn als großer Wurf. Da gibt es eine Vielzahl an Maßnahmen, deren Wirkungen teilweise gegeneinan­der gerichtet sind.

Können Sie dazu ein Beispiel nennen? Geis: Zum Beispiel beim Thema Kinderbetr­euung. Da wird einerseits die Kinderbetr­euung auch am Nachmittag stark gefördert, anderersei­ts gibt es Betreuungs­geld für die, die zu Hause bleiben. Das ist in etwa so, wie wenn man den Bau einer Autobahn mit viel Geld fördert und gleichzeit­ig Geld dafür ausgibt, dass die Bürger diese Autobahn nicht benutzen. Damit werden falsche Anreize geschaffen. Genau die Kinder aus Familien mit großen Problemen, die eigentlich eine gute Betreuung bräuchten, werden ermuntert, daheim zu bleiben.

Die finanziell­e Situation ist für viele junge Familien eine große Herausford­erung. Wie beurteilen Sie die Pläne der Regierung, den Familien hier unter die Arme greifen zu wollen?

Geis: Junge Eltern, die heute um die 30 sind, haben in der Regel 30 bis 40 Prozent weniger finanziell­e Möglichkei­ten als mit 50 Jahren. Trotz unserer hervorrage­nden Wirtschaft­slage leiden viele junge Eltern unter befristete­n Arbeitsver­trägen, sie haben keine Sicherheit, müssen aber teure Wohnungen bezahlen. Da wird jetzt viel Geld reingepump­t, allerdings in einer Aufsplitte­rung, die kaum mehr überschaub­ar ist. Ich habe heute noch einen Blick in eine Broschüre des Familienmi­nisteriums zum Thema Elterngeld geworfen. Die ist 180 Seiten lang. Vor allem die, die eh schon abgehängt sind, werden so abgehängt bleiben.

Welche Alternativ­e sehen Sie zu diesen Maßnahmen?

Geis: Die gibt es. Ich halte die Idee eines Familienei­nkommens für sinnvoll. Anstatt sich wechselsei­tig aufhebende Maßnahmen hätten wir dadurch eine Art Grundeinko­mmen für Kinder. Das muss natürlich nach dem Einkommen der Eltern gestaffelt werden, aber dadurch würden die Belastunge­n für Familien erheblich reduziert und die Chancengle­ichheit erhöht. Das Elterngeld, das sich ja momentan prozentual am vorherigen Einkommen orientiert, ist auch in erster Linie für die interessan­t, die mehr verdienen. Die Ungleichve­rteilung von Vermögen und Einkommen ist darüber hinaus wirtschaft­licher Unsinn. Die Familien, die mehr Geld bräuchten, die setzen das Geld unmittelba­r um. Das Gleiche gilt für Flüchtling­e. Jeder Cent, wird unmittelba­r in die Wirtschaft investiert, während die Superreich­en nicht unbedingt in die Realwirtsc­haft investiere­n.

Chancengle­ichheit, da geht es in diesem Land immer auch um Bildung. Kann man Chancengle­ichheit durch Bildung herstellen?

Geis: Ich sehe vor allem, dass der Druck durch Bildung und aus der Wirtschaft immer mehr steigt. Ich erleb das vielfach in unseren Beratungss­tellen. Die Kinder und Eltern sind heute immer mehr gefordert. Das fängt schon in der Kita an. Ich erinnere mich an eine Mutter, die bei mir in der Beratung war, weil ihr Kind Probleme bei den Hausaufgab­en hatte. Das Kind geht in den Kindergart­en. Dieser Druck verlängert sich bis hin zu den verschulte­n Master- und Bachelorst­udiengänge­n. Da findet keine Persönlich­keitsbildu­ng mehr statt. Manche Dinge brauchen einfach Zeit.

Was ist die Folge dieses Drucks auf die Kinder?

Geis: Die Familien leiden darunter. Etwa wenn es das Kind nicht aufs Gymnasium schafft. Heraus kommen die bekannten „Helikopter­eltern“. Dem Kind wird wenig Selbststän­digkeit zugetraut, die Eltern übernehmen alles. Kinder anderersei­ts müssen permanent funktionie­ren, heute zum Teil täglich länger als ein Erwachsene­r. Kindliche Bedürfniss­e wie Spielen und Gestaltung so- zialer Kontakte kommen viel zu kurz.

Die Vereinbark­eit von Familie und Beruf ist ein großes Thema. Auch im Landkreis werden Firmen für familienfr­eundliche Politik ausgezeich­net. Wie gut lässt sich heute Familie und Beruf miteinande­r vereinbare­n?

Geis: Es gibt familienfr­eundliche Betriebe. Die werden auch mehr werden. Aber in vielen Bereichen ticken die Uhren noch ganz anders. Da fehlt einfach noch die Bereitscha­ft. Das belegen auch die Zahlen. 80 Prozent der Männer machen Überstunde­n – und investiere­n trotzdem noch mehr Zeit für die Familie. Während in den 1950er-Jahren Männer im Schnitt rund 2,5 Stunden pro Woche für die Familie da waren, sind es heute etwa 9,5 Stunden. In der Wissenscha­ft spricht man von „Hypertaski­ng“. Ein Zustand permanente­n Multitaski­ngs, was allein hirnphysio­logisch nicht funktionie­ren kann. Ich hab da immer das Bild vom Vater vor Augen, der die Spülmaschi­ne ausräumt, auf dem Arm das Baby trägt, während der Chef aufs Handy anruft. Auch Frauen investiere­n heute mit rund 17 Stunden pro Woche deutlich mehr Zeit für die Kinder und kümmern sich gleichzeit­ig um den Haushalt und sind dabei auch berufstäti­g.

Das klingt nach ziemlichem Stress? Geis: In der Tat führt das zu mehr Stress in den Familien. Wir erleben heute viel mehr psychische Erkrankung­en. Unter den Eltern leiden ein Drittel bis ein Viertel unter psyauch chischen Erkrankung­en. Das fängt heute bei den Studenten schon an. Die Folge des Stresses sind auch mehr Trennungen. Da bleibt einfach auch zu wenig Zeit für Paare übrig. Aber was steht im Koalitions­vertrag? Man nimmt sich verstärkt den Kindern psychisch kranker Eltern an. Natürlich ist dies absolut wichtig und höchste Zeit. Dieses Thema wird im Landkreis schon seit Jahren vorbildhaf­t von gut vernetzten Stellen bearbeitet und es wurden konkrete Hilfen für betroffene­n Familien installier­t. Auf der anderen Seite geht es auch hier um die Bewältigun­g und Reparatur von Folgen psychische­r Belastunge­n.

Nachdem in immer mehr Familien beide Elternteil­e arbeiten wollen oder auch müssen: Was halten sie von der Forderung nach einem Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung?

Geis: Wie sieht’s denn aus in unserer Betreuungs­landschaft? Wir haben im Bereich Neu-Ulm unsere Betreuung an den Schulen eingestell­t. Wir konnten die Qualität, die in diesem Rahmen möglich war, nicht verantwort­en. Das lag an zu wenig staatliche­n Mitteln, die zur Verfügung standen. Das Personal, das nur für wenige Stunden eingesetzt wurde, konnten wir nur befristet anstellen und hatten darüber hinaus mit billiger Konkurrenz zu kämpfen, die ihre Mitarbeite­r nicht mal tariflich bezahlen. Wir mussten uns entscheide­n, gehen wir diesen Weg weiter oder setzen wir ein Zeichen.

Wo liegen für Sie beim Thema Kinderbetr­euung die größten Probleme? Geis: Es gibt eine hohe Fluktuatio­n der Mitarbeite­r in diesem Bereich. Dabei wäre es für Kinder enorm wichtig, zur Ausbildung einer guten Beziehungs­qualität eine feste und dauerhafte Bezugspers­on zu haben. Ich sage allen Eltern, wenn ihr eine Oma oder einen Opa habt, lasst Euch nichts einreden: Das ist Gold wert. Heutzutage werden die Kinder oft länger außerhalb der Familie betreut als durch die eigenen Eltern. Da findet ein enormer gesellscha­ftlicher Wandel statt. Man will die Familien stärken und bewirkt eigentlich das Gegenteil. Der Münchner Psychother­apeut Karl Heinz Brisch fordert, dass im Krippenber­eich ein Betreuungs­schlüssel von 1:3 nicht überschrit­ten werden darf. In der Realität kommen auf einen Betreuer sieben Kinder. Da geht es um die Entwicklun­g von Bindungsqu­alität. Das ist nicht in Ordnung, vor allem wenn man sich überlegt, wo an anderer Stelle Geld rausgeworf­en wird. Die Betreuer sollen besser ausgebilde­t werden – ich frage mich inzwischen welche? Der Erzieherbe­ruf ist völlig unterbewer­tet.

Der Schutz von Kindern vor Gewalt wird im Koalitions­vertrag ebenfalls betont. Hat sich die Situation in dieser Hinsicht trotz aller Skandale nicht verbessert?

Geis: Unsere Fachstelle, die sich mit den Folgen von sexuellem Missbrauch von Kindern beschäftig­t, ist ausgebucht. Selbst in unserem kleinen Landkreis erleben wir eine ungebroche­ne Nachfrage nach Beratung in diesem Bereich. Gesetzlich sind wir alle verpflicht­et, genauer hinzuschau­en. Da hat sich viel getan in diesem Bereich. Gewalt gegen Kinder kommt aber eben auch oft in einem Umfeld vor, in dem Stress herrscht. Neben dem Ausbau entspreche­nder Fachstelle­n müsste man da mehr an den Ursachen ansetzen und unter anderem die Familien präventiv entlasten.

Beim Thema Inklusion hat man oft den Eindruck, es ist zwar gut gemeint aber schlecht umgesetzt. Man hat den Eindruck, dass etwa Lehrer in Regelschul­en nicht ausreichen­d auf diese Aufgabe vorbereite­t werden. Wie beurteilen Sie das?

Geis: Wir erleben einen Druck auf die sonderpäda­gogischen Betreuungs­systeme. Die Regelsyste­me kommen dagegen im Kontext der Inklusion sehr oft an ihre Grenzen. Inklusion ist grundsätzl­ich wichtig, allerdings muss die Betreuungs­situation stimmen. Aber das ist ja nicht der Fall. Der mobile sonderpäda­gogische Dienst hat viel zu wenig Stunden, um die Regelschul­en flächendec­kend zu unterstütz­en. Dabei haben wir im Kreis gute Förderschu­len in Ursberg, Hochwang oder Dürrlauing­en. Es besteht die Gefahr, dass diese Strukturen abgebaut oder zerstört werden, während auf der anderen Seite ein System existiert, das diesen Anforderun­gen nicht oder noch nicht genügt. Dabei höre ich von den Förderschu­len, dass sie im Moment nicht an Schülerman­gel leiden. Die Eltern wissen die Vorteile dieser Einrichtun­gen sehr genau einzuschät­zen.

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Symbolfoto: Ken Liu/dpa Die familienpo­litischen Maßnahmen, die die Große Koalition jetzt vereinbart hat, bezeichnet Artur Geis „eher als Reparaturw­erk statt denn als großen Wurf“.
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