„Es ist Gold wert, wenn ihr eine Oma habt“
Artur Geis, Leiter der Kinder- und Jugendhilfe im Kreis, über Fehler in der Familienpolitik, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie über Probleme bei der Kinderbetreuung und der Umsetzung der Inklusion
Herr Geis, der Landkreis Günzburg schmückt sich mit dem Titel Kinderund Familienregion. Wie familienfreundlich ist der Landkreis?
Artur Geis: Ich glaube, dass der Landkreis sehr viel tut, um die Situation von Familien zu verbessern. Die Situation von Familien im Landkreis Günzburg stellt sich im Wesentlichen nicht anders dar als im Rest des Landes. Mir erscheint das, was die neue Große Koalition jetzt im Koalitionsvertrag an familienpolitischen Maßnahmen vereinbart hat, eher als Reparaturwerkstatt denn als großer Wurf. Da gibt es eine Vielzahl an Maßnahmen, deren Wirkungen teilweise gegeneinander gerichtet sind.
Können Sie dazu ein Beispiel nennen? Geis: Zum Beispiel beim Thema Kinderbetreuung. Da wird einerseits die Kinderbetreuung auch am Nachmittag stark gefördert, andererseits gibt es Betreuungsgeld für die, die zu Hause bleiben. Das ist in etwa so, wie wenn man den Bau einer Autobahn mit viel Geld fördert und gleichzeitig Geld dafür ausgibt, dass die Bürger diese Autobahn nicht benutzen. Damit werden falsche Anreize geschaffen. Genau die Kinder aus Familien mit großen Problemen, die eigentlich eine gute Betreuung bräuchten, werden ermuntert, daheim zu bleiben.
Die finanzielle Situation ist für viele junge Familien eine große Herausforderung. Wie beurteilen Sie die Pläne der Regierung, den Familien hier unter die Arme greifen zu wollen?
Geis: Junge Eltern, die heute um die 30 sind, haben in der Regel 30 bis 40 Prozent weniger finanzielle Möglichkeiten als mit 50 Jahren. Trotz unserer hervorragenden Wirtschaftslage leiden viele junge Eltern unter befristeten Arbeitsverträgen, sie haben keine Sicherheit, müssen aber teure Wohnungen bezahlen. Da wird jetzt viel Geld reingepumpt, allerdings in einer Aufsplitterung, die kaum mehr überschaubar ist. Ich habe heute noch einen Blick in eine Broschüre des Familienministeriums zum Thema Elterngeld geworfen. Die ist 180 Seiten lang. Vor allem die, die eh schon abgehängt sind, werden so abgehängt bleiben.
Welche Alternative sehen Sie zu diesen Maßnahmen?
Geis: Die gibt es. Ich halte die Idee eines Familieneinkommens für sinnvoll. Anstatt sich wechselseitig aufhebende Maßnahmen hätten wir dadurch eine Art Grundeinkommen für Kinder. Das muss natürlich nach dem Einkommen der Eltern gestaffelt werden, aber dadurch würden die Belastungen für Familien erheblich reduziert und die Chancengleichheit erhöht. Das Elterngeld, das sich ja momentan prozentual am vorherigen Einkommen orientiert, ist auch in erster Linie für die interessant, die mehr verdienen. Die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen ist darüber hinaus wirtschaftlicher Unsinn. Die Familien, die mehr Geld bräuchten, die setzen das Geld unmittelbar um. Das Gleiche gilt für Flüchtlinge. Jeder Cent, wird unmittelbar in die Wirtschaft investiert, während die Superreichen nicht unbedingt in die Realwirtschaft investieren.
Chancengleichheit, da geht es in diesem Land immer auch um Bildung. Kann man Chancengleichheit durch Bildung herstellen?
Geis: Ich sehe vor allem, dass der Druck durch Bildung und aus der Wirtschaft immer mehr steigt. Ich erleb das vielfach in unseren Beratungsstellen. Die Kinder und Eltern sind heute immer mehr gefordert. Das fängt schon in der Kita an. Ich erinnere mich an eine Mutter, die bei mir in der Beratung war, weil ihr Kind Probleme bei den Hausaufgaben hatte. Das Kind geht in den Kindergarten. Dieser Druck verlängert sich bis hin zu den verschulten Master- und Bachelorstudiengängen. Da findet keine Persönlichkeitsbildung mehr statt. Manche Dinge brauchen einfach Zeit.
Was ist die Folge dieses Drucks auf die Kinder?
Geis: Die Familien leiden darunter. Etwa wenn es das Kind nicht aufs Gymnasium schafft. Heraus kommen die bekannten „Helikoptereltern“. Dem Kind wird wenig Selbstständigkeit zugetraut, die Eltern übernehmen alles. Kinder andererseits müssen permanent funktionieren, heute zum Teil täglich länger als ein Erwachsener. Kindliche Bedürfnisse wie Spielen und Gestaltung so- zialer Kontakte kommen viel zu kurz.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein großes Thema. Auch im Landkreis werden Firmen für familienfreundliche Politik ausgezeichnet. Wie gut lässt sich heute Familie und Beruf miteinander vereinbaren?
Geis: Es gibt familienfreundliche Betriebe. Die werden auch mehr werden. Aber in vielen Bereichen ticken die Uhren noch ganz anders. Da fehlt einfach noch die Bereitschaft. Das belegen auch die Zahlen. 80 Prozent der Männer machen Überstunden – und investieren trotzdem noch mehr Zeit für die Familie. Während in den 1950er-Jahren Männer im Schnitt rund 2,5 Stunden pro Woche für die Familie da waren, sind es heute etwa 9,5 Stunden. In der Wissenschaft spricht man von „Hypertasking“. Ein Zustand permanenten Multitaskings, was allein hirnphysiologisch nicht funktionieren kann. Ich hab da immer das Bild vom Vater vor Augen, der die Spülmaschine ausräumt, auf dem Arm das Baby trägt, während der Chef aufs Handy anruft. Auch Frauen investieren heute mit rund 17 Stunden pro Woche deutlich mehr Zeit für die Kinder und kümmern sich gleichzeitig um den Haushalt und sind dabei auch berufstätig.
Das klingt nach ziemlichem Stress? Geis: In der Tat führt das zu mehr Stress in den Familien. Wir erleben heute viel mehr psychische Erkrankungen. Unter den Eltern leiden ein Drittel bis ein Viertel unter psyauch chischen Erkrankungen. Das fängt heute bei den Studenten schon an. Die Folge des Stresses sind auch mehr Trennungen. Da bleibt einfach auch zu wenig Zeit für Paare übrig. Aber was steht im Koalitionsvertrag? Man nimmt sich verstärkt den Kindern psychisch kranker Eltern an. Natürlich ist dies absolut wichtig und höchste Zeit. Dieses Thema wird im Landkreis schon seit Jahren vorbildhaft von gut vernetzten Stellen bearbeitet und es wurden konkrete Hilfen für betroffenen Familien installiert. Auf der anderen Seite geht es auch hier um die Bewältigung und Reparatur von Folgen psychischer Belastungen.
Nachdem in immer mehr Familien beide Elternteile arbeiten wollen oder auch müssen: Was halten sie von der Forderung nach einem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung?
Geis: Wie sieht’s denn aus in unserer Betreuungslandschaft? Wir haben im Bereich Neu-Ulm unsere Betreuung an den Schulen eingestellt. Wir konnten die Qualität, die in diesem Rahmen möglich war, nicht verantworten. Das lag an zu wenig staatlichen Mitteln, die zur Verfügung standen. Das Personal, das nur für wenige Stunden eingesetzt wurde, konnten wir nur befristet anstellen und hatten darüber hinaus mit billiger Konkurrenz zu kämpfen, die ihre Mitarbeiter nicht mal tariflich bezahlen. Wir mussten uns entscheiden, gehen wir diesen Weg weiter oder setzen wir ein Zeichen.
Wo liegen für Sie beim Thema Kinderbetreuung die größten Probleme? Geis: Es gibt eine hohe Fluktuation der Mitarbeiter in diesem Bereich. Dabei wäre es für Kinder enorm wichtig, zur Ausbildung einer guten Beziehungsqualität eine feste und dauerhafte Bezugsperson zu haben. Ich sage allen Eltern, wenn ihr eine Oma oder einen Opa habt, lasst Euch nichts einreden: Das ist Gold wert. Heutzutage werden die Kinder oft länger außerhalb der Familie betreut als durch die eigenen Eltern. Da findet ein enormer gesellschaftlicher Wandel statt. Man will die Familien stärken und bewirkt eigentlich das Gegenteil. Der Münchner Psychotherapeut Karl Heinz Brisch fordert, dass im Krippenbereich ein Betreuungsschlüssel von 1:3 nicht überschritten werden darf. In der Realität kommen auf einen Betreuer sieben Kinder. Da geht es um die Entwicklung von Bindungsqualität. Das ist nicht in Ordnung, vor allem wenn man sich überlegt, wo an anderer Stelle Geld rausgeworfen wird. Die Betreuer sollen besser ausgebildet werden – ich frage mich inzwischen welche? Der Erzieherberuf ist völlig unterbewertet.
Der Schutz von Kindern vor Gewalt wird im Koalitionsvertrag ebenfalls betont. Hat sich die Situation in dieser Hinsicht trotz aller Skandale nicht verbessert?
Geis: Unsere Fachstelle, die sich mit den Folgen von sexuellem Missbrauch von Kindern beschäftigt, ist ausgebucht. Selbst in unserem kleinen Landkreis erleben wir eine ungebrochene Nachfrage nach Beratung in diesem Bereich. Gesetzlich sind wir alle verpflichtet, genauer hinzuschauen. Da hat sich viel getan in diesem Bereich. Gewalt gegen Kinder kommt aber eben auch oft in einem Umfeld vor, in dem Stress herrscht. Neben dem Ausbau entsprechender Fachstellen müsste man da mehr an den Ursachen ansetzen und unter anderem die Familien präventiv entlasten.
Beim Thema Inklusion hat man oft den Eindruck, es ist zwar gut gemeint aber schlecht umgesetzt. Man hat den Eindruck, dass etwa Lehrer in Regelschulen nicht ausreichend auf diese Aufgabe vorbereitet werden. Wie beurteilen Sie das?
Geis: Wir erleben einen Druck auf die sonderpädagogischen Betreuungssysteme. Die Regelsysteme kommen dagegen im Kontext der Inklusion sehr oft an ihre Grenzen. Inklusion ist grundsätzlich wichtig, allerdings muss die Betreuungssituation stimmen. Aber das ist ja nicht der Fall. Der mobile sonderpädagogische Dienst hat viel zu wenig Stunden, um die Regelschulen flächendeckend zu unterstützen. Dabei haben wir im Kreis gute Förderschulen in Ursberg, Hochwang oder Dürrlauingen. Es besteht die Gefahr, dass diese Strukturen abgebaut oder zerstört werden, während auf der anderen Seite ein System existiert, das diesen Anforderungen nicht oder noch nicht genügt. Dabei höre ich von den Förderschulen, dass sie im Moment nicht an Schülermangel leiden. Die Eltern wissen die Vorteile dieser Einrichtungen sehr genau einzuschätzen.