Es hätte alles anders kommen können
Sprengmeister Martin Radons hat die Neu-Ulmer 500-Kilo-Fliegerbombe am Sonntag entschärft. Doch was wäre gewesen, wenn ihm das nicht gelungen wäre? Zwei Szenarien
Neu Ulm Sonntag, 15 Uhr. Stille liegt über den Straßen von Neu-Ulm. Kein Zug fährt den Bahnhof an. Selbst in den Wohnungen scheint alles leblos und verlassen. Nichts rührt sich hinter den Vorhängen, kein Fernseher flimmert. Einzig die Tauben fliegen durch die Kälte. Dann der Knall, der alles erschüttert. Splitter, 50 Zentimer groß, vier Kilo schwer, sausen durch die Luft, schlagen in Hausfassaden ein, die Druckwelle presst das Glas aus den Scheiben, die Von-Hünfeld-Straße hat sich innerhalb von Sekunden in ein Schlachtfeld verwandelt.
„Ja, an dem Platz und an dem anliegenden Studentenwohnheim hätte es schlecht ausgesehen“, sagt Sprengmeister Martin Radons. Hätte, denn all das ist nicht passiert. Der Bombenentschärfer aus Altenstadt schildert, was passiert wäre, wenn das Entschärfen schiefgegangen wäre. Doch seine Arbeit ist am Sonntag geglückt, trotz mancher Schwierigkeiten. Die Stadt steht, Radons lebt und hat sich den Tag nach seinem Einsatz erst einmal freigenommen. Der Sprengmeister ist kein Freund der vielen Worte, keiner, der um seinen Job groß Aufhebens macht. Auch nicht, seitdem er am Zweiten Weihnachtsfeiertag 2016 eine gewaltige Fliegerbombe in Augsburg entschärft hat und dort zum Helden stilisiert wurde. „Klar, wir pflücken keine Äpfel von Bäumen, man muss sich der Sache bewusst sein, mit der man da arbeitet.“Aber es gebe auch andere gefährliche Berufe, sagt Radons. Er erinnert an die vielen Polizisten, die am Sonntag bei der Entschärfung in Neu-Ulm im Einsatz waren.
Nur zögerlich gibt der Altenstadter zu, dass er die Anspannung vor einem Großeinsatz deutlich spürt. „Da bist du froh, wenn es endlich losgeht.“Routine existiere in sei- Beruf nicht. Der Sprengmeister kommt an den Einsatzort, sieht das Ungetüm, kontrolliert, in welchem Zustand es sich befindet, wie es sich in den Boden gegraben hat und um welchen Typ es sich handelt – es gibt Hunderte. Dann legt er los. Sein Ziel ist es, die Zündkette unbeschadet zu unterbrechen. Wie genau das geht, das verrät Radons nicht. Er möchte niemandem erklären, wie eine Bombe aufgebaut ist.
Im Fall der Neu-Ulmer Fliegerbombe stellte der Sprengmeister schnell etwas sehr Ungewöhnliches fest: Nicht der Kopfzünder war de- formiert, wie sonst üblich, sondern der zweite, hintere Zünder. Warum? Wegen des schlechten Bodens, mutmaßt Radons. Aber wer weiß das schon, 70 Jahre, nachdem die Stadt bis auf die Mauern niedergebombt wurde? Klar war am Sonntag nur: Es bestand die gesamte Zeit über ein Restrisiko, aber ein berechenbares. Darum die weiträumige Evakuierung.
Seit dem Zweiten Weltkrieg ruhen etliche Blindgänger im Neu-Ulmer Erdreich. Wie viele und wo, das kann keiner sagen. Darum müssen Bauherren vor Baubeginn den Bonem den ihres Grundstücks nach Sprengkörpern untersuchen. Bei verdächtigen Flächen kontrolliert die Stadt auf alten Luftbildern der Alliierten, wo Bomben einschlugen. Zudem prüft die Stadt anhand aktueller Aufnahmen regelmäßig, inwieweit sich der Boden verändert. Auch das kann ein Hinweis sein. Als zusätzliches Mittel kommen Metalldetektoren zum Einsatz. Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu kleineren Funden: beim Bau der GlacisGalerie im Jahr 2013, vor der Landesgartenschau oder beim Bahnhofsprojekt Neu-Ulm 21.
Bei der 500-Kilo-Bombe, die Radons am Sonntag entschärfte, handelt es sich um den bisher größten Fund in der Region. Hätte der Sprengmeister die Bombe nicht entschärfen können, dann hätte er sie kontrolliert gesprengt. Dazu schüttet der Kampfmittelräumdienst den Sprengkörper mit mehreren Tonnen Sand zu, um zu verhindern, dass kiloschwere Splitter durch die Luft fliegen. Dass es selbst dann zu erheblichen Sachschäden kommt, hat 2012 der Blindgänger im Münchner Stadtteil Schwabing eindrucksvoll bewiesen. Dort zerbarsten durch die Druckwelle reihenweise Fensterscheiben, Lampen zersprangen, Vasen zersplitterten – bis heute wird vor Gericht gestritten, wer die Kosten zu übernehmen hat.
Dank Radons und seinen Kollegen bleibt Neu-Ulm all das erspart. Schon kurz nachdem die Polizei Entwarnung gab, zog in der Stadt wieder Leben ein und der Sprengmeister fuhr nach Hause nach Altenstadt. Wie man drauf sein muss, um diesen Job zu machen? Kein Draufgänger, kein Rambo. Vielmehr müsse ein Bombenentschärfer Ruhe ausstrahlen, sagt Radons. Es gelte, psychisch gefestigt zu sein. Anwerber, die das nicht mitbringen, haben in dem Job nichts verloren. Beim Kampfmittelräumdienst werden Uhrmachereigenschaften geschätzt: „Du brauchst viel Liebe zum Detail“, sagt Radons. Er selbst kam bei der Bundeswehr zum ersten Mal mit Granaten, Minen und Fliegerbomben in Berührung und kann seitdem die Finger nicht mehr von ihnen lassen. Zu seinem Alltag gehören allerdings weniger Sprengkörper wie der in Neu-Ulm, sondern zum Beispiel „Handgranaten, die am Donauufer angeschwemmt werden“. Auf Kaliber wie diese Fliegerbombe, das versichert Radons, sei auch er nicht scharf. „So was braucht keiner.“