Er will erzählen, was war, so lange es geht
Natan Grossmann berührt mit seiner Überlebensgeschichte Günzburger Schüler. Was für ihn Wiedergutmachung bedeutet
Günzburg „Was hat Ihnen Hoffnung gemacht, weiter zu machen?“„Wussten die Alliierten, was in den Konzentrationslagern vor sich ging?“„Wie haben die Erlebnisse Ihr Leben beeinflusst?“Eine Frage nach der nächsten prasselte am Donnerstag auf den 91-jährigen Holocaustüberlebenden, Natan Grossmann, ein. Im Saal der Musikschule Günzburg waren die Schüler der Maria-Theresia-Mittelschule sehr interessiert, an dem was er zu erzählen hatte. Spontan gesellte sich sogar die zehnte Klasse der Montessorischule Günzburg zu dem Vortrag dazu.
Eines wollte Natan Grossmann zu Beginn klarstellen: „Ihr habt nichts mit diesem Teil der Geschichte zu tun“, sagt er bestimmend zu den Schülern. Es gebe Hemmungen gegenüber Holocaustüberlebenden, wenn er vor Jugendlichen spreche, welche er gleich am Anfang abbauen wolle. Elke Warnecke, evangelische Religionspädagogin an der Mittelschule, hat den Vortrag organisiert und stellte gleich die erste Frage: Wieso nimmt ein 91-Jähriger so weite Wege auf sich, um vor Jugendlichen zu sprechen? Bei der Antwort musste der in München lebende Grossmann erst einmal schmunzeln, da er schon viel längere Wege zurückgelegt habe, um vor Menschen in Polen oder New York zu sprechen. Dann findet er aber ernste Worte: „Die zwölf Jahre Faschismus haben das deutsche Nest beschmutzt. Deutschland ist ein wunderbares Land, lasst es nicht kaputtmachen, von niemandem“. In der heutigen Zeit würden immer mehr Menschen behaupten, der Holocaust hätte niemals stattgefunden. Deswegen reise er umher und erzähle seine Geschichte.
Als der 91-Jährige mit der bestechend positiven Ausstrahlung beginnt, aus seinem Leben zu erzählen, hören ihm die Jugendlichen aufmerksam zu. Geboren wurde er 1927 in Zgierz, Polen. Sein älterer Bruder war Weber, sein Vater Schuster und seine Mutter Hausfrau. Sie waren arm und konnten kaum die Miete bezahlen. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, marschierte die Wehrmacht in sein Heimatdorf ein. Eines Tages mussten sich alle Juden versammeln und ihnen wurde gesagt, dass sie ins Getto nach Lodz gebracht würden.
Ende März 1940 sei das Getto dann hermetisch abgeriegelt worden. Die Menschen bekamen dort nichts mehr zu essen. „Der Tod durch Hunger ist der schlimmste“, sagt Natan Grossmann. Sein Bruder starb als erstes Familienmitglied. Sein Vater wurde von der Gestapo erschlagen, nachdem er seine letzte Wertsache, seinen Ehering, an die Offiziere abgegeben hatte. Danach gab es nur noch die Mutter und ihn.
Die einzige Möglichkeit, an Nahrung zu kommen, war durch Arbeit im Getto Lodz. Er habe im Metallressort gearbeitet und ist gelernter Schmied, erzählte der Zeitzeuge. Für die Arbeit bekam er eine Suppe. Als er von seiner Mutter erzählt, bricht der 91-Jährige in Tränen aus. Von dem wenigen Essen, welches seine Mutter hatte, habe sie ihm immer etwas abgegeben. Am 19. September 1942 starb sie in seinen Armen. Nach dem Krieg habe er sich Vorwürfe gemacht, dass er das Essen nicht hätte annehmen sollen, um seiner Mutter so vielleicht das Überleben zu sichern. Auf einem seiner Vorträge habe eine Frau irgendwann gesagt, er solle kein schlechtes Gewissen haben, denn das hätte jede Mutter so getan. Diese Aussage habe ihm etwas geholfen.
Später kam er nach Auschwitz. Wieso er nicht in die Gaskammer geschickt wurde, wisse er nicht – „vielleicht benötigten sie noch arbeitsfähige Menschen“. Eines Tages wurden 1000 Arbeiter aus dem Metallressort nach Braunschweig gefahren, da dort Arbeiter benötigt wurden. Natan Grossmann war einer von 250 Arbeitern, die in einen Betrieb nach Vechelde kamen. Dort sei er gut behandelt worden, denn er bekam endlich genug zu essen und musste nicht mehr hungern.
Acht Monate arbeitete er in Vechelde, bis der Todesmarsch begann. Menschen, die zu schwach waren, um zu marschieren, wurden erschossen. Circa drei oder vier Wochen dauerte der Marsch. Eines Tages sah Natan Grossmann, dass eine Gruppe sowjetischer Gefangener Fleisch briet. Sein Hunger sei so groß gewesen, dass er auch etwas davon gegessen habe. Als er wieder zu seiner Gruppe zurückkam, meinten diese, es sei Menschenfleisch gewesen.
Am 2. Mai 1945 wurde er bei Ludwigslust von der 82. Luftlandedivision der Amerikaner befreit. „Es war ein Gefühl, als ob ich ein zweites Mal geboren worden wäre“, weiß Grossmann noch genau. Die Schüler der zehnten Klasse waren schockiert und gerührt vom Leben des 91-Jährigen. Tim Nöring fand das, was Grossmann erzählte, sehr interessant. „Es ist gut, dass er über sein Leben erzählt, vor allem, weil wir vermutlich die letzte Generation sind, die Zeitzeugen erleben können“, meint der 17-Jährige. Ein Klassenkamerad stimmte ihm zu: „Mich hat die Geschichte von seiner Mutter sehr mitgenommen“. Auch Valeria Prochorik, 16, fand es gut, die Geschichte von einem Zeitzeugen zu hören. Man höre zwar in der Schule von den Dingen, die passiert sind, aber es sei eben etwas anderes dies von einem Menschen zu hören, der sie selbst erlebt habe. „Man kann es sich einfach nicht vorstellen, dass das alles passiert ist“, meint die 16-jährige Leonie Dollwetzel. Was sie sehr bewundere, sei, dass Natan Grossmann trotz all dem Erlebten nicht daran zerbrochen sei.
Dieser sorgte dann zum Ende des Vortrags noch mit einem Satz für einen besonders rührenden Moment. Seit 52 Jahren sei er mit einer Deutschen verheiratet. Und es werde ja viel über Wiedergutmachung geredet, aber: „Die beste Wiedergutmachung, die mir je passiert ist, ist meine Frau“.
„Deutschland ist ein wunderbares Land, lasst es nicht kaputtmachen, von niemandem.“Zeitzeuge Natan Grossmann