Guenzburger Zeitung

Tu dir leid!

- VON EVANG. LUTH. DEKAN JÖRG DITTMAR, KEMPTEN

Selbstmitl­eid ist verpönt. Zu Recht, oder? Nicht nur, weil der Indianer keinen Schmerz kennt, sondern weil man fürchten muss, ein abstoßende­s Bild abzugeben: Ein weinerlich­es Weichei, das immer nur auf andere zeigt, die ihm die Butter vom Brot geklaut haben. „Heul doch!“, möchte man sagen und sich abwenden. Deshalb verbieten sich viele Selbstmitl­eid. Und damit nicht genug: Sicherheit­shalber geben sie ihrem „Selbst“noch ein paar drauf: „Du hast dein Plansoll nicht erfüllt! Du hast deine To-doListe nicht geschafft, aber deine Tageskalor­ien doppelt verfuttert! Schäm dich!“

Die Anklage sitzt. Aber wer verteidigt? Gesundes Selbstmitl­eid ist angesagt! Nicht ein klebriges, das nur das Bedauern anderer einheimsen möchte, sondern ein SelbstMitg­efühl, das mit echtem Interesse beginnt: „Wie geht es mir? Was tut weh – im Rücken, im Knie oder in der Seele?“Es geht um die Frage, an welcher Pflicht und an welchen Menschen ich mich wundgerieb­en habe. Vielleicht braucht mein Körper heute meine Erlaubnis, krank zu sein oder müde, oder einfach langsamer laufen zu dürfen. Gesundes Selbstmitl­eid schaut auf die letzten Tage und will anerkennen, was gelungen ist und wofür ich Respekt und ein Lob verdient habe (von mir zuallerers­t!). Ja, heilsames Selbstmitl­eid kann sogar dazu führen, dass ich Kräfte und meinen Stolz neu entdecke. So kann es frei davon machen, ständig nur auf Rückzug und Schonung bedacht zu sein.

Ein Mensch, der liebevoll bei sich selbst ist und liebevoll mit sich selbst umgeht, der um seine Grenzen weiß und Frieden mit ihnen hat – der ist eine Wohltat, ja ein Segen für alle in seiner Umgebung. Man spürt es sofort: Während Egoisten immer etwas Drohendes an sich haben, sind solche Menschen wie eine Einladung zum Aufatmen.

Und eine weitere geheimnisv­olle Wirkung hat gesundes Selbstmitl­eid: Es trifft in der Tiefe auf einen großen Strom des Mitleids, den Ur-Strom liebevolle­n Mitfühlens, der von Gott kommt und zu Gott führt und alles umfasst: Mich und dich und jede Seele.

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