Guenzburger Zeitung

Die Reise ins Ich

Manche Wege muss man gehen, um zu sich selbst zu kommen. Dazu gehört für sechs Frauen und Männer aus dem Landkreis die Bruder-Klaus-Fußwallfah­rt. Warum spätestens am Ziel viele Tränen fließen

- Interview Till Hofmann

Sie sind jetzt 76 Jahre alt und haben ohne Unterbrech­ung zwischen 1982 und 2007 an der Flüeli-Fußwallfah­rt teilgenomm­en. Wie ist es dazu gekommen.

Rosa Wagner: Durch Mundpropag­anda 1981 auf einer Israel-Reise. Damals hatten die Fluglotsen gestreikt – und wir hatten viel Zeit. Der Pfarrer hat über diese spezielle Wallfahrt erzählt. Das hat mir so gefallen, dass ich mir eingebilde­t habe, da mitmachen zu müssen. 26 Mal sind daraus geworden.

Sie pilgern in sechs Etappen rund 200 Kilometer vom Allgäu in die Zentralsch­weiz – an den Wirkungsor­t von Niklaus von Flüe, der als Bruder Klaus besser bekannt ist. Haben Sie sich mit diesem Mann beschäftig­t?

Elisabeth Sailer: Schon. Er ist, wenn man so will, ein komischer Heiliger. Denn er hat, nachdem die Hofübergab­e an den ältesten Sohn geregelt war, seine Frau und seine zehn Kinder verlassen, weil er seiner Berufung nachgegang­en ist.

Reinhold Siegner: Die Geschichte wird Bruder Klaus, der von 1417 bis 1487 gelebt hat, immer anhaften. Er ist Schutzheil­iger der Schweiz; auch deshalb, weil er Streitigke­iten mit Nachbarlän­dern schlichten konnte. Und er ist der Patron unserer Landvolkbe­wegung. Nicht viele Bauern werden heiliggesp­rochen.

Wie schwierig ist diese Wallfahrt? Matthias Bolkart: Sie ist eine körperlich­e Herausford­erung. Wenn man nachmittag­s erschöpft ans Ziel kommt, seinen Koffer aus dem begleitend­en Bus holt und ihn samt Tagesrucks­ack und Wanderstöc­ke in den Schlafsaal in den dritten Stock schleppt, dann fragt man sich schon: Was mache ich eigentlich hier? So ist es nicht nur mir, sondern vielen an- deren beim ersten Mal gegangen. Aber jeden Tag läuft’s ein bisschen besser, wenn man erst einmal in Tritt gekommen ist.

Ferdinand Lerner: Unterschät­zen sollte man auch nicht, dass die Nacht bereits um 3 Uhr vorüber ist. Wecken, waschen, wer will, kann sich noch selbst ein kleines Frühstück zubereiten. Und um 4 Uhr beginnt die nächste Etappe. Ich werde nicht vergessen, wie jemand am Ende des ersten Tages über sich selbst gesagt hat, was er nur für ein dummer Hund sei, da mitgemacht zu haben. Am nächsten Tag stand der Mann vor mir und hat den Gottesdien­st gehalten: Es war der Pfarrer.

Was schätzen Sie an dieser Wallfahrt? Reinhilde Lerner: Mir gefällt der Gottesdien­st am Abend so gut. Einige der Teilnehmer haben ihre Instrument­e mitgenomme­n, packen sie dann aus und gestalten den Gottesdien­st einfach mit. Und dann ist es auch die Gemeinscha­ft untereinan­der. Neulinge tragen ein Namensschi­ld mit einem weißem Band um den Hals. Die „Weißlinge“sind also leicht zu erkennen. Und Unterstütz­ung ist da nicht fern.

In einem Prospekt wird von einer „inneren Einkehr“gesprochen. Haben Sie das so erlebt?

Ferdinand Lerner: Beim ersten Mal war es bei mir nicht so. Denn da war ich durch die körperlich­e Anstrengun­g und Umstellung so mit mir beschäftig­t, dass ich nicht einmal richtig mitbekomme­n habe, in welcher schönen Landschaft ich mich bewege. Was aber in den Tagen der Wallfahrt mit den Menschen passiert, ist beachtlich: Da führen plötzlich fremde Menschen Gespräche miteinande­r, die man so kaum für möglich hält. Bolkart: Und wenn andere über Schicksals­chläge oder Familientr­agödien sprechen, merkt man sehr schnell, wie klein doch plötzlich die eigenen Probleme werden.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Ferdinand Lerner: Einer hat von seiner Frau berichtet, die an schweren Depression­en litt. Sie hat ihre kleinen Kinder und sich selbst umgebracht.

Wie kann man in einem solchen Moment, in der die ganze Verzweiflu­ng des Witwers aufsteigt, reagieren? Wagner: Zuhören.

Macht einen diese Wallfahrt zu einem anderen Menschen?

Bolkart: Das glaube ich schon – zumindest für eine gewisse Zeit. Wenn man von so einem Erlebnis nach Hause kommt, werden die Alltagssor­gen nicht unbedingt weniger. Ich habe dann fast das Gefühl, sie warten bereits hinter der Haustür auf einen. Und doch nimmt man sie leichter.

Wagner: Für mich war das alle die Jahre immer eine Auszeit für Leib und Seele.

Was passiert dann am Ziel der Pilgerreis­e?

Bolkart: Es ist ein überwältig­endes Gefühl. Man ist stolz auf sich, das so hinbekomme­n zu haben. Menschen, die sich zuvor nicht gekannt haben, fallen sich in die Arme. Die Augen werden feucht.

Gibt es einen in dieser Runde, der bei der Bruder-Klaus-Fußwallfah­rt noch nicht geweint hat? Dann darf er das jetzt gerne sagen.

Die Gäste bleiben stumm.

 ?? Archivfoto: Dieter Haschner ?? Fußwallfah­rt der Landvolkbe­wegung in die Zentralsch­weiz nach Sachseln, kurz vor der Grabeskirc­he von Bruder Klaus. Unter den Teilnehmer­n sind stets auch welche aus der Region.
Archivfoto: Dieter Haschner Fußwallfah­rt der Landvolkbe­wegung in die Zentralsch­weiz nach Sachseln, kurz vor der Grabeskirc­he von Bruder Klaus. Unter den Teilnehmer­n sind stets auch welche aus der Region.
 ?? Foto: Bernhard Weizenegge­r ?? Sie waren oder sind Teil der Wallfahrt nach Flüeli: (sitzend von links) Elisabeth Sailer, Rosa Wagner sowie (stehend von links) Ferdinand Lerner, Reinhilde Lerner, Matthias Bolkart und Reinhold Siegner.
Foto: Bernhard Weizenegge­r Sie waren oder sind Teil der Wallfahrt nach Flüeli: (sitzend von links) Elisabeth Sailer, Rosa Wagner sowie (stehend von links) Ferdinand Lerner, Reinhilde Lerner, Matthias Bolkart und Reinhold Siegner.

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