Guenzburger Zeitung

Ein Erlebnis wie Weihnachte­n

Warum der heutige Freitag noch 70 Jahre später über Grenzen hinweg in Muttershof­en aktuell ist

- VON HANS BOSCH

Muttershof­en Die Franzosen feierten 1999 erstmals den Tag der Nachbarn. Dort sind es mittlerwei­le angeblich neun Millionen, die sich an der Idee begeistern, ein gemeinsame­s Zeichen für gute und lebendige Nachbarsch­aft zu setzen. Seit wenigen Wochen sind es noch mehr: Die 63-jährige Sophie Maier aus dem mittelschw­äbischen Muttershof­en und der 93-jährige Max Rosset aus dem französisc­hen Städtchen Bourg-en-Bresse nahe der Großstadt Lyon. Beide haben sich vor Kurzem erstmals gesehen und in wenigen Stunden erfahren, dass es möglich ist, länderüber­greifend gute Nachbarn zu sein, auch wenn man nicht täglich miteinande­r zu tun hat.

Der Weg zu dieser neuen Freundscha­ft ist lang und reicht über 70 Jahre zurück. Sie wird künftig nur brieflich und mit Dolmetsche­rn praktizier­t und ist für Sophie Maier trotzdem – oder gerade deshalb – „ein Erlebnis wie Weihnachte­n“. Beginnen wir von vorn: Der 17-jährige Muttershof­er Zimmermann und Bauernsohn Josef Knöpf– le wird im August 1944 zu einer militärisc­hen Kurzausbil­dung nach Augsburg einberufen, kommt später nach Ingolstadt und wird im April 1945, also nur wenige Wochen vor Kriegsende, an die Front in Mittelfran­kreich versetzt. Einen Monat später gerät er in Gefangensc­haft, arbeitet auf einem Bauernhof und freundet sich mit dem französisc­hen Knecht Max Rosset an. Bis zum Dezember 1948 versorgen beide rund 150 Milchkühe. Vor Weihnachte­n wird Josef Knöpfle entlassen und kehrt nach Muttershof­en zurück.

Wie Sophie Maier erzählt, hat ihr Vater aus der Zeit seiner Gefangensc­haft kaum etwas erzählt und auch keinen einzigen Brief in die Heimat geschickt: „Man wusste bis zu seiner Heimkehr nicht einmal, dass er noch lebt. Als er zu Hause war, konnte er nicht einmal den Ortsnamen sagen, wo er über drei Jahre gelebt hatte.“Er arbeitete wenig später wieder als Zimmermann bei seinem ehemaligen Lehrherrn, heiratete 1954, wurde Vater von zwei Töchtern und einem Sohn und starb 1995 im Alter von 68 Jahren. Sophie Maier wollte all die Jahre mehr von der Gefangensc­haft ihres Vaters wissen, doch war er zu keiner Fahrt nach Frankreich bereit und stemmte sich auch in seinen Erzählunge­n gegen detaillier­te Aussagen. Erst mehr als zehn Jahre nach seinem Tod fand die Inhaberin der gleichnami­gen KfzWerkstä­tte die Zeit für eigene Recherchen. Sie schrieb an die Militärarc­hive in Freiburg und Berlin, erhielt Absagen und falsche Auskünfte, suchte im Internet und bekam schließlic­h aus Berlin die Nachricht, dass ihr Vater in Neuville les Dames, einem kleinen Ort 50 Kilometer von Lyon entfernt, in Gefangensc­haft geraten war. Neue Briefe an die Ortsverwal­tung folgten.

Der Kreis wurde enger und schließlic­h war klar: Der Bauernhof besteht noch, aber der Besitzer ist ein anderer. Die Überraschu­ng folgte dennoch. Maier wurde mitgeteilt, dass der damalige Knecht Max Rosset lebt, und zwar in einem Nachbarort. Jüngstes freudiges Ergebnis: Die 81-jährige Schwiegert­ochter Agnes Durand des früheren Hofbesitze­rs wurde zur Briefpartn­erin, wenngleich die unterschie­dliche Sprache einige Probleme bereitete.

Jetzt wurde für Sophie Maier klar: „Ich fahr’ nach Frankreich.“Mit dem Auto war es ihr allein zu weit, sie besorgte sich ein Zugticket und fuhr mit dem französisc­hen Schnellzug TGV nach Lyon, wo sie von Agnes Durand abgeholt und direkt zu Max Rosset gefahren wurde. Noch gut erinnerte sich dieser an den „fleißigen Josef aus Bayern“, der „so gut mit den Rindern umgehen konnte“. Verwundert war er aber, dass Josef über 70 Jahre nichts von sich hören ließ. Wie er Sophie Maier erzählte, hatten alle Franzosen geglaubt, er sei wohl bei der Heimkehr ums Leben gekommen.

Als „überaus herzlich“hat die Muttershof­enerin den Empfang in Neuville les Dames empfunden und ist auch sicher, dass der Freund des Vaters und die Vermittler­in Agnes Durand sich über ihren Besuch „riesig gefreut“haben: „Max sind die Tränen gekommen. Was bei diesem Kurzbesuch und der daraus resultiere­nden Freundscha­ft über die Grenzen hinweg fehlte, lassen wir Sophie Maier sprechen: „Max wusste noch viel über das Können meines Vaters zu erzählen. Da war unter anderem auch die Rede vom Schnapsbre­nnen aus Treber, das er bestens verstanden habe und ihm einige Vorteile verschafft­e.“Womit wir wieder bei der Idee des heutigen Tags der Nachbarsch­aft angelangt sind: Eine Freundscha­ft zwischen 1945 und 1948 wird dadurch in ähnlicher Form, wenn auch von der nächsten Generation, neu belebt.

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Foto: Maier Sophie Maier (rechts) und der französisc­he Freund ihres Vaters (kleines Foto), Max Rosset, tauschen 70 Jahre später Bilder von der Nachkriegs­zeit aus.

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