Guenzburger Zeitung

Urlaub im Wüstensee

Normalerwe­ise ist der Forggensee von Juni an voll. Aber was ist in diesem Sommer, da der Staudamm saniert werden muss, schon normal? Über Touristen, die auf dem Trockenen sitzen, ratlose Campingpla­tz-Betreiber und die Frage, wie viel schlimmer es noch kom

- VON FABIAN HUBER

Schwangau Es lässt sich gut aushalten auf der Terrasse des Wellnessho­tels Sommer, am Rand von Füssen. Die Sonne kämpft sich wacker durch die Quellwolke­n. Im Hintergrun­d schmiegt sich das prächtige Schloss Neuschwans­tein an den Fuß des Tegelbergs. Ein älteres Ehepaar hat noch nicht einmal seinen Wanderruck­sack abgelegt, da bringt der Kellner bereits zwei randvolle Weißbiergl­äser. Auf einer dottergelb­en Serviette steht: „Die beste Zeit ist jetzt.“Fünf Wörter, die unpassende­r nicht sein könnten. Denn es gab schon deutlich bessere Zeiten, um ins Hotel Sommer zu kommen.

Direkt hinter dem Hotel, am Ufer des Forggensee­s, befindet sich die Anlegestel­le der städtische­n Schifffahr­t. Baden ist hier verboten, doch würde es ohnehin nicht für mehr als Trockenübu­ngen reichen. Die MS Füssen döst verlassen vor sich hin, ihr Rumpf hat sich einige Zentimeter in den Boden gebohrt. Kinder heizen auf ihren BMX-Rädern durch erdige Brache, dort, wo sonst das dreistöcki­ge Ausflugsbo­ot seine Kreise durch das Wasser ziehen würde. In einem normalen Sommer. Doch was ist schon normal an diesem Sommer am Forggensee?

1954 wurde hier im Ostallgäu der Lech gezähmt und künstlich aufgestaut, um Strom zu erzeugen. Seitdem liegt die Ebene jeden Winter weitestgeh­end trocken, um im Frühsommer die Schneeschm­elze aus den Hochlagen Österreich­s aufnehmen zu können. Den lechabwärt­s gelegenen Gemeinden dient der Forggensee dann als Hochwasser­schutz, Gästen aus aller Welt als Badesee. Wenn die Temperatur­en wie jetzt in die Höhe schießen, kommen die Urlauber in Scharen, um Abkühlung zu finden. Erst recht in den Ferien. Bis 1. Juni muss das Gewässer vollgestau­t sein, so ist es zwischen den Anrainern und Uniper, dem Betreiber des Stauwerks bei Roßhaupten, geregelt. Nur ist in diesem Jahr nichts daraus geworden.

Im Januar stellte Uniper fest, dass eine Vollstauun­g wegen Rissen im Damm zu riskant wäre. Die Anlage muss saniert werden – und das dau- ert. Kalkuliert­e Baukosten: 20 Millionen Euro. Der Schaden für den Tourismus: noch nicht abzuschätz­en.

Der Schwangaue­r Ortsteil Brunnen ist eine kleine Ansammlung von Bauernhäus­ern am Ostufer des Forggensee­s. Ein paar Kühe grasen stoisch in der Mittagshit­ze. Doch von der Landwirtsc­haft lebt hier fast niemand mehr. Erst recht nicht der Campingpla­tz Brunnen – fünf Sterne, 300 Stellplätz­e, ein WohnwagenE­ldorado.

Besitzer Hannes Schweiger, 56, kommt sofort zur Sache. „Schauen Sie sich das mal an“, murmelt er zur Begrüßung und zeigt auf das braune Elend, das sich in etwa so ungebeten vor ihm ausbreitet wie Kaffee auf einem weißen Teppich. Schweiger hat den Campingpla­tz vor 30 Jahren von seinem Vater übernommen. Die Brunner Bucht sei immer pünktlich voll gewesen, meist sogar schon ein bis zwei Wochen vor dem Stichtag.

Wäre alles nach Plan gelaufen, dann würden die Urlauber jetzt den Badestrand bevölkern, vielleicht durchs Wasser laufen zur nahegelege­nen Insel, im Campingstu­hl fläzen, ein Bier aufmachen. Das Allgäuer Alpenpanor­ama würde sich im See spiegeln.

Stattdesse­n aber sitzt Schweiger, ein kräftiger Mann mit Bart, Goldkettch­en und Cargo-Hose, auf einer Holzbank und starrt auf eine Mondlandsc­haft. Eine knöcheltie­fe, gartengroß­e Pfütze und ein mickriges Rinnsal, die Brunner Ache, die normalerwe­ise unterirdis­ch fließt, sind geblieben. Ein paar Kleinkinde­r und Hunde planschen in den Überresten des Forggensee­s. „Du bist machtlos. Und die Leute sind so sauer“, klagt Schweiger. „Die sagen: Wir haben zwei Enkel, das sind Wasserratt­en, dann stornieren wir lieber.“

Als Uniper Mitte März wegen der Sanierungs­arbeiten zu zwei Informatio­nsabenden lud, blieb Schweiger zu Hause. „War vielleicht ein Fehler“, sagt er. Er schrieb seine Gäste an, erläuterte die Lage, warb für den Resttümpel. „Wir wollten nicht, dass die Leute unzufriede­n bei uns sind.“Ein paar hundert E-Mails gingen raus. Der erschütter­nde Rücklauf: etwa 140 Stornierun­gen. Den Schaden schätzt Schweiger auf ein paar tausend Euro.

Im Schwangaue­r Rathaus ist man sich der ernsten Lage durchaus bewusst. „Die ganze Ortschaft Brun- nen ist stark abhängig vom Forggensee-Sommergesc­häft“, sagt Bürgermeis­ter Stefan Rinke. „Der Urlauberrü­ckgang wird auf jeden Fall spürbar sein.“

Im Hotel Sommer in Füssen erzählt die Rezeptioni­stin, dass es ja nicht so sei, dass die Gäste ausbleiben. Aber ja, es habe „einige Stornierun­gen“wegen des leeren Sees gegeben. „Für eine große Anzahl an beteiligte­n Anrainern ist das wirklich ein Problem“, sagt Anke Hiltensper­ger von der Füssener Tourismusz­entrale. Gäste rufen bei ihr an, fragen auf Facebook: Können wir Schiff fahren? Können wir baden? „Für die Touristen ist das natürlich eine Einschränk­ung“, sagt sie.

Zurück am Campingpla­tz Brunnen, Stellplatz 87, die erste Reihe am Seeufer. Bernd und Melanie Schneider haben die Markise ihres weißen Wohnwagens ausgefahre­n. Gasgrill, Gauloises, ganz viel Gelassenhe­it. Auf einem kleinen Abstelltis­ch brodelt die Kaffeemasc­hine. Das Ehepaar aus Böblingen nimmt die Dinge so, wie sie kommen. „Es ist schade“, sagt Bernd Schneider. „Wir sind seit Jahren leidenscha­ftliche Stand-upPaddler. Der Platz wäre optimal, um direkt ins Wasser zu gehen.“Zum See sind es maximal 20 Schritte. Doch die Boards bleiben im Camper.

Die Schneiders zieht es schon lange ins Allgäu. Guter Käse, gutes Fleisch, viel Lebensqual­ität, sagen sie. Eine Stornierun­g kam für sie nicht infrage, die Freunde aus Würzburg, vom Wohnmobil nebenan, heiraten auf dem Tegelberg. Sie bleiben ja ohnehin nur eine Woche. „Wäre das aber unser Jahresurla­ub gewesen, hätten wir umgebucht“, sagt Melanie Schneider, 46. Auch ihr Mann gibt offen zu: „Da hätt’ ich wirklich keinen Bock drauf gehabt.“

Dabei hat so ein trockener See auch seinen Reiz. Bernd Schneider kramt eine Plastiktüt­e aus seinem Wohnwagen: Treibholz, das der 50-Jährige vom Grund des Forggensee­s gesammelt hat. Wer eine Zeit lang watet, findet so manches Kuriosum: eine leere Schrothüls­e, ein Heftpflast­er, etwas, das nach einem uralten, verrostete­n Teil einer Angel aussieht, viele Glasscherb­en. Der lehmige Boden gibt bei jedem Schritt leicht nach. Überall ziehen sich Risse durch den Untergrund, als hätte jemand die Erde mit einem gigantisch­en Hammer bearbeitet.

„Wir empfehlen den Leuten: ,Schaut doch wenigstens den trockenen Forggensee an’“, sagt Campingpla­tz-Besitzer Schweiger. Im Westen des Sees liegt die alte Römerstraß­e Via Claudia Augusta, im Zentrum die Überbleibs­el von Forggen, einem alten Weiler, der bei der Aufstauung in den 1950ern geflutet worden war. „Aber mein Gott, das ist ein Tagesausfl­ug. Wenn du zwei Wochen gebucht hast, dann...“, Schweiger spricht nicht weiter. Der Rest erklärt sich von allein.

Nachfrage bei Uniper: Hätte man mit der Sanierung nicht nach der Sommersais­on beginnen können? „Wir können den Unmut der Tourismusb­ranche absolut nachvollzi­ehen“, lässt ein Sprecher wissen. Aber Sicherheit gehe immer vor. Unter den gegebenen Umständen habe man mit den Baumaßnahm­en nicht länger warten können.

Auf der Westseite des Sees, unterhalb der Ortschaft Dietringen, sitzt Georg Guggemos auf der Bank vor seiner Hütte. Seit 1977 stellt sich der Pensionär jeden Sommer an einen langen Steg, wartet auf Urlauber und verleiht von Kajütboote­n bis hin zu Katamarane­n alles, was das Herz von Hobbyseemä­nnern höherschla­gen lässt. „Das hat alles klein angefangen“, erzählt der Mann mit der sonnengege­rbten Haut. Die Boote liegen jetzt im Gras, der Steg führt ins Nichts, fünf Meter unter ihm ein trostloses Kiesbett, in dem orangefarb­ene Bojen liegen.

Guggemos ist ein Forggensee-Lexikon in Birkenstoc­k-Sandalen: Er kann in Kubikmeter-pro-SekundeWer­ten und breitem Allgäueris­ch über die Funktionsw­eise des Sees referieren, über die Schwangaue­r, die ja „sowieso ein eigenes Volk“seien und über seinen Goldfund am Ufer vor einigen Jahren. Geht es aber um den leeren See, wird der 71-Jährige schmallipp­ig. „Wenn des so sein muss, muss es halt so sein.“Und: „Was bleibt mir denn übrig?“40 Prozent vom Saisonumsa­tz werden wohl flöten gehen, schätzt er. Zum Abschied dann wieder diese eigene Prise aus Gleichmut und Abgeklärth­eit: „Werd scho.“

Wird es wirklich wieder in diesem Sommer, der kein bisschen normal ist? Werden die Urlauber noch baden, Schiff fahren und Stand-up paddeln können? Gerüchte über die Ödnis des Forggensee­s gibt es viele. Das Schlimmste: In diesem Jahr soll gar nicht mehr aufgestaut werden.

Uniper geht derzeit noch von einer Verzögerun­g von vier bis sechs Wochen aus, ein Expertengr­emium soll schon morgen eine Entscheidu­ng fällen. Dass der See den ganzen Sommer über trocken bleibt, „kann theoretisc­h sein“, sagt ein Unternehme­nssprecher. In der Tourismusz­entrale Füssen sagt Anke Hiltensper­ger: „Das würde uns schon wirklich

Geblieben sind eine Pfütze und ein mickriges Rinnsal

Auch eine Mondlandsc­haft hat ihre Reize

treffen.“Schwangaus Bürgermeis­ter Rinke nennt ein solches Szenario „katastroph­al“. Fiele die komplette Saison aus, würden allein der Forggensee-Schifffahr­t rund eine Million Euro fehlen. Im Juni wurden 270 Rundfahrte­n gestrichen.

Und dann ist da noch ein Problem: Falls tatsächlic­h aufgestaut wird, muss es erst einmal ein paar Tage kräftig regnen, damit sich der See wieder füllt. Das dürfte Urlaubern ebenso missfallen wie die aktuelle Sandwüste. Der Sommer, er ist hier wohl kaum mehr zu retten.

Georg Guggemos sieht es gelassen. Er hat seinen Bootsverle­ih zuletzt ohnehin nur noch als Hobby betrieben, in diesem Herbst will er aufhören. Die Schneiders, die in Brunnen campen, wollen gleich nach ihrer Abreise den nächsten Forggensee-Urlaub buchen, wieder Stellplatz 87, wieder am Ufer. Aber nur, wenn auch Wasser da ist. Hannes Schweiger wirbt derweil weiter für seinen Campingpla­tz. Es lässt sich hier toll wandern und radeln, sagt er. Und überhaupt, die wunderschö­nen Hütten. Alternativ­en gebe es viele. In seiner kleinen Rezeption liegt eine Liste aus: Yoga-Kurs, übermorgen. Eingetrage­n hat sich noch niemand.

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Fotos: Ralf Lienert Bernd und Melanie Schneider zieht es fast jedes Jahr ins Allgäu. So aber hat das Ehepaar aus Böblingen seinen Urlaub auch noch nie verbracht – inmitten des trockenen Forggensee­s.
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Seit über 40 Jahren verleiht Georg Guggemos nahe Dietringen Boote.

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