Guenzburger Zeitung

Russland gelingt die Sensation

Russland gegen Spanien war das Duell zweier Fußball-Philosophi­en. Am Ende des Spiels gab es neben den Gastgebern einen weiteren Sieger: den Fan des ehrlichen Kampfes

- VON BENJAMIN KRAUS

Moskau Nach dem 4:3-Erfolg im Elfmetersc­hießen und 120 Minuten intensiver Abwehrschl­acht zuvor steht die Frage: Darf man sich mit dieser russischen Elf freuen? Für den Fußballfan ist als Antwort zulässig: Natürlich. Denn der Art und Weise, wie sie aus limitierte­n Möglichkei­ten das Maximum herausholt, trotzdem spielerisc­h glänzt und mit dem Vorleben von Leidenscha­ft die Begeisteru­ng weckt bei Mitspieler­n und Fans, kann sich niemand entziehen, der das Spiel liebt.

Und sie bietet tolle Typen: Artjöm Dsjuba, der Turm von Tula, Stanislaw Tschertsch­essow, der kauzige Trainer, der zu seinem zurückhalt­enden Jubel anmerkte: „Ich habe mir etwas für den weiteren Turnierver­lauf aufgespart.“Einst war er Torwart, nun schenkt er einem Keeper das Vertrauen, der bei der WM 2014 und der EM 2016 durch Fehler aufgefalle­n war. Gegen Spanien wurde er zum Helden.

Beide Trainer hatten mit ihrer Startelf überrascht: Spaniens 17-Tage-Mann Fernando Hierro setzte Taktgeber Andrés Iniesta, der nach dem Spiel seinen Rücktritt bekannt gab, zunächst auf die Bank – der junge Marco Asensio begann. Tschertsch­essow ließ Linksaußen Denis Tscherysch­ew, dreifacher Torschütze, zuerst draußen zugunsten eines defensiven 5-3-1-1-Systems mit Dsjuba als Zielspiele­r zur Einleitung von Kontern.

Zuerst dämpften aber die Spanier früh die Euphorie im Stadion mit dem 1:0 nach einer Standardsi­tuation. Durch lange Diagonalbä­lle hatten die Iberer den Abwehrbloc­k der Russen aufgeweich­t, sodass Linksverte­idiger Juri Schirkow den Spanier Nacho auf dem Flügel nur per Foul stoppen konnte. Asensios Freistoßfl­anke fand am zweiten Pfosten Spaniens Sergio Ramos in einem Ringkampf mit Sergej Ignaschewi­tsch: Beide zogen und zerrten, aber Russlands Libero verlor den Ball aus den Augen, der über seine eigene Wade ins Tor prallte – 0:1.

Dann aber schalteten die Spanier ungeschick­terweise vom attraktive­n Tiki-Taka in den Deutschlan­d-Modus: Passsicher­heit und Feldüberle­genheit ja, Sprints und Torgefährl­ichkeit nein. So verloren sie die Kontrolle. Das 1:1 erinnerte an den Spanien-Treffer: Erst Diagonalba­ll, dann Standard. Eine Ecke fand Dsjuba im Rücken von Piqué und der Spanier hielt nach dem Unterlaufe­n des Balles den Arm in die Höhe, sodass der Kopfball auf seiner Hand landete. Ein klarer Elfmeter, bestätigt vom Videoassis­tenten, verwandelt von Dsjuba.

Der Rest der 120 Minuten ist fix erzählt: Spanien spielte zwar wieder etwas zielgerich­teter, fand aber kaum einen Weg durch das engmaschig­e Netz der Russen. Auch weil Dsjuba nach 60 Minuten das Spielfeld verlassen hatte, musste Russ- lands Abwehrbloc­k mit fortschrei­tender Spieldauer mit nachlassen­der Entlastung klarkommen und wich immer weiter zurück. Überwinden ließ er sich aber nicht mehr. Die Landsleute auf der Tribüne feierten frenetisch jede Grätsche ihrer Spieler – und die starken Paraden von Akinfejew. Die Fans trugen ihre Mannschaft mit Rossiya-Rufen akustisch bis zum Schlusspfi­ff.

Im Elfmetersc­hießen bei einsetzend­em Regen wurde Akinfejew zum Helden: Er parierte gegen Koke mit der Hand und gegen Iago Aspas mit dem Fuß. „Ich spüre jetzt eine völlige Leere – vor Freude. Ob das glücklich war? Die Frage ist fehl am Platze, wir haben gewonnen“, sagte der 32-Jährige, nachdem er einen Diver in den umgepflügt­en Rasen gesetzt hatte.

Es war der Moment der Gewissheit, dass für diese Elf bei der WM 2018 alles möglich ist. Indirekt erklärte das sogar der Trainer des Gegners: „Spaniens Fußball hat seinen Markenkern gezeigt. Aber die Trends im internatio­nalen Fußball – Fünferkett­e, Umschaltsp­iel – setzen andere“, so Hierro.

Tore 1:0 Ignaschewi­tsch (12./Eigentor), 1:1 Dsjuba (41./Handelfmet­er) Zuschauer 78 011 (ausverkauf­t)

 ?? Foto: afp ?? Die entscheide­nde Szene des Spiels: Russlands Torwart Igor Akinfejew schafft es artistisch, mit seinem linken Bein den Schuss des letzten spanischen Elfmetersc­hützen abzuwehren. Danach war alles Jubel.
Foto: afp Die entscheide­nde Szene des Spiels: Russlands Torwart Igor Akinfejew schafft es artistisch, mit seinem linken Bein den Schuss des letzten spanischen Elfmetersc­hützen abzuwehren. Danach war alles Jubel.

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