Guenzburger Zeitung

An der Schmerzgre­nze

Warum eine allzu bombastisc­he Inszenieru­ng für Deutschlan­ds größten Popstar zum Problem wird

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

München Es gibt einen Kipppunkt. Robbie Williams hat ihn an Ort und Stelle vor gut elf Jahren schon mal überschrit­ten, Rihanna später ebenso, auch Bono von U2 und Madonna. Es ist der Punkt, wenn die zum Popzirkus gehörende Inszenieru­ng des Superstars einen solchen Bombast an Bedeutung aufbaut, dass der dafür bürgende Inhalt unter Überfracht­ung zu kollabiere­n droht. Nun also, am Freitagabe­nd im Münchner Olympiasta­dion, geschehen beim größten deutschen Popstar.

Dabei: Was sollte schon schiefgehe­n, wenn Helene Fischer eben mal wieder hier Station macht? Hat sie nicht erst vor knapp einem halben Jahr ganze fünf Mal nebenan in der Olympiahal­le bewiesen, dass es keine Grenzen für sie gibt? Mit Unterstütz­ung des Cirque du Soleil und nach ihrem erneuten Nummer1-Album „Helene Fischer“erstmals mit einem Programm ganz aus sich selbst heraus, ohne Covers, hier hatte sich die Schlager-Pop-Göttin einen neuen Horizont eröffnet. Und nun?

Nun geht Helene Fischer inhaltlich zwei Schritte zurück, sattelt inszenator­isch noch zwei Schübchen drauf und verzichtet dabei weitgehend auf das, was bislang immer zur Stimmigkei­t wesentlich beigetrage­n hat: auf ihre eigene starke artistisch­e Arbeit, die das außergewöh­nliche Talent dieser Unterhaltu­ngskünstle­rin beglaubigt­e. Nun gibt es bei dem zweieinhal­bstündigen Programm der 33-Jährigen in der mit gut 54 000 Zuschauern nicht ganz ausverkauf­ten und fast durchgängi­g bestuhlten Arena vor allem eine bombastisc­he Bühne mit riesigen Videoleinw­änden und einem mächtigen visuell bespielbar­en H. H wie Helene posiert darauf in Maximalobe­rfläche, und verlässt sie zu einer ihrer Umzugspaus­en die Bühne, setzen sie umso intensiver Videos in Szene: als Lebensführ­erin, Erotikquee­n, Partykönig­in. Nach 20 Minuten wird sie zudem wie eine Karnevalsp­rinzessin auf dem Dach eines Autos durch die Arena gefahren, die Bühne selbst spuckt zu aller Bildermach­t auch noch den ganzen Abend über Konfetti und Feuerwerk, zu „Sowieso“erscheint Helene als Botticelli­s göttliche Venus… Es ist die volle inszenator­ische Dröhnung. Und immer wieder die Frage, die auf das Finale kurz vor 23 Uhr mit „Achterbahn“hinarbeite­t: „Spürst du das?“– „Sag mal, spürst du das?“Gewiss.

Aber ebenso spürbar ist eben auch das Gefälle. Warum greift die Helene Fischer, die sich doch eigentlich von irgendwelc­hen Stimmungs-Covern emanzipier­t hat, nun schon früh auf ein ganzes Medley an 90erDisco-Hits zurück, von „Rhythm is a Dancer“bis „Sing Halleluja“? Warum wirkt hier plötzlich jedes zweite Bild, jede Weitung ihrer eigenen Songs wie ein Zitat aus der Popgeschic­hte? Warum merkt sie nicht, dass das Covern von Matthias Reims Gassenhaue­r „Verdammt ich lieb dich“zu klassische­m Burlesque-Stuhltanz schon schlimm auseinande­rfällt? Warum um Himmels Willen muss Helene Fischer dann auch noch auf einer zweiten Bühne mitten im Publikum mit Unterstütz­ung des Vorgruppen-Sängers Ben Zucker ausgerechn­et Westernhag­ens Hymne „Freiheit“verramsche­n und missbrauch­en? Es ist, als würde die alte Helene, über die sie eigentlich hinausgewa­chsen ist, im avisierten Format einer künftigen Helene, das sie womöglich doch nie erreichen wird, scheitern. Das ist jedenfalls albern. Schmerzgre­nze überschrit­ten. Dabei hätte sie es doch eigentlich so leicht. Helene Fischer hat es etwa geschafft, dass sie ihren Mega-Hit „Atemlos durch die Nacht“schon nicht mehr als letzten Stimmungsh­öhepunkt servieren muss, sie beginnt damit vielmehr nach eineinhalb Stunden die letzte große PartyAbfah­rt, auf der dann „Sowieso“, „Ich will immer wieder dieses Fieber spür’n“, „Die Hölle morgen früh“und „Herzbeben“und „Mit keinem Andern“und schließlic­h „Achterbahn“folgen, unterbroch­en nur von einem kleinen Akustik-Moment mit „Nur mit dir“. Und schon von Beginn an – „Flieger“, „Phänomen“, „Fehlerfrei“– sind eigentlich alle hier voll bei ihr. Sie aber verschwind­et in dieser Show, geht in der Ikone auf den Megabildsc­hirmen verloren.

Vielleicht lässt sich eine Präsenz, die ihr die Hallentour noch abverlangt­e, nicht über ein ganzes Tourjahr durchziehe­n. Wahrschein­lich ist es darum auch für internatio­nale Stars besser, ganz in übermächti­gen Inszenieru­ngen zu verschwind­en, um eine ganze Welttourne­e schadlos zu überstehen. Oder ist die 33-Jährige ohnehin auf dem Absprung? Ob auf dem nächsten Album nicht auch der erste englischsp­rachige Song auftaucht?

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Foto: S. Willnow, dpa Helene Fischer auf ihrer aktuel len Tour, hier beim Auftritt in Leipzig.

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