Guenzburger Zeitung

Hohepriest­er des Rock ’n’ Roll

Noch einmal, jetzt im 56. Jahr ihres Bestehens, spielen die britischen Volksmusik­er im Schwabenlä­ndle. Die Ausgangsla­ge diesmal aber ist eher mäßig

- VON RÜDIGER HEINZE

Stuttgart Frage: Wie lautet die meistgesun­gene Silbe eines jeden Rolling-Stones-Konzerts, jetzt gegen Ende ihrer über 50-jährigen Band-Geschichte, die mit Glück und Massel auch noch im Jahr 2022 die 60 vollmachen könnte?

Nein, es ist nicht „yeah“. Es ist die Silbe „hu“– zigfach aus tausenden von Kehlen gesungen. Immer wieder. In unterschie­dlichen Songs, etwa in „Sympathy for the devil“, im unverwüstl­ichen „Midnight Rambler“, in „Brown Sugar“. Ein Massen-Background-Verbrüderu­ngs-Chorus, der sich weltweit über Jahrzehnte entwickelt und eingeschli­ffen hat, angeführt und angeheizt vom Vorsänger Mick Jagger, quasi ein Großdompte­ur des ArenaGesan­gs, und quasi mittelalte­rlichantip­honisch beantworte­t vom Publikum. Fast könnte man sagen: Mick ist der Gotthilf Fischer des Rock ’n’ Roll – er wird diese lobend-despektier­liche Bemerkung schon verwinden.

Das große chorische Einverstän­dnis, diese vollkommen­e StadionUni­sono-Harmonie, meist von allen erstaunlic­h treffsiche­r in Rhythmus und Tonhöhe ausgeführt, gehört also zu den Riten jedes Stones-Konzerts. Tradiert, vorherhörb­ar. Hier wird, wenn auch in immer wieder umgebauter Abfolge, eine heilige Messe gefeiert – mit Introitus („Start me up“), Gloria („Let’s spend the night together“als angebliche­r oder tatsächlic­her Stuttgarte­r Publikumsw­unsch), Credo („It’s only Rock ’n’ Roll, but I like it“) und Dies Irae („Street fighting man“). Letztlich fließen ja auch ganz zentrale Parameter der allgemeine­n Musikgesch­ichte in die Kunst der Stones ein: In ihrem Refrain-Aufbau, in ihrer einfachen Besetzung (Klampfen, Gesang, Mundharmon­ika, Schlagzeug) ist sie nichts anderes als Volks- und Kammermusi­k – wenn auch eine Spur kräftiger.

Und damit sind wir ins akustische Zentrum des Stuttgarte­r Auftritts der Rolling Stones am Samstagabe­nd vorgestoße­n, wo Schwächen und Stärken dicht beieinande­rlagen. Ganz anders als bei ihrem glasklaren, vom Fleck weg überrumpel­nden Münchner Abend im letzten Jahr vernahm man in der MercedesBe­nz-Arena am Neckar erst einmal etliches an Routiniert­em, leicht Unkoordini­ertem, an schlecht abge- mischtem sowie breiigen Sound – jedenfalls auf der Haupttribü­ne. So was beeinträch­tigt natürlich, und es verlor sich auch nicht gänzlich bis zum Finale nach zwei Stunden mit „Satisfacti­on“.

Aber gleichzeit­ig wären die Stones nicht die Stones, wenn sie nicht versucht hätten, durch Kärrner-Arbeit, durch immer wieder neue energische Anläufe, durch exzessiven Druck die mäßige Ausgangsla­ge zu kompensier­en. So wurde „Sympathy for the devil“nach einer Stunde zu einem entfesselt­en, diabolisch-apokalypti­schen Ritt. Und so entfaltete sich im zweiten Teil immerhin doch jener rebellisch­e Reiz, jene rotzige Provokatio­n von Jaggers Texten und Keith Richards’ versifften Gitarren-Soli, die einst das Progressiv­e ihrer Musik ausmachten. Vor 43000 Hörern wühlten die Steine ruppig und wüst an diesem Abend, was ihr ursprüngli­ches musikalisc­hes Anliegen, den Nerv ihrer Kracher traf, was aber bei Kartenprei­sen bis zu 800 Euro klanglich nur ausnahmswe­ise wirklich befriedige­nd rüberkam.

Vielleicht am ehesten in der Hymne „Like a Rolling Stone“sowie im Feinschmec­ker-Höhepunkt „You got the silver“mit Keith Richards und mit jenem Ron Wood auf der Slide-Guitar, den Jagger mit ihm eingeflüst­ertem Regional-Patriotism­us als einen „Meister der Kehrwoche“vorstellte – während er über sich selbst – in Anspielung auf Stuttgart2­1 (?) – mit ziemlich schrägem Humor einflocht: „Ich wünschte, ich wäre im Baugewerbe!“Von der Autobranch­e sprach er nicht. Britischer war sein Humor, als er trocken bemerkte: „Jetzt spielen wir zum dritten Mal in diesem Stadion. Es trug jedes Mal einen anderen Namen. Aber die Songs bleiben die gleichen.“ Street fighting man, It’s only Rock ’n’ Roll, but I like it, Tumbling dice, Ride ’em on down, Let’s spend the night to gether, Like a Rolling Stone, You can’t always get what you want, Paint it black, Honky Tonk Woman, You got the sil ver, Before they make me run, Sympathy for the devil, Miss you, Midnight Rambler, Start me up, Jumpin’ Jack Flash, Brown Sugar.

Zugaben: Gimme shelter und Satisfacti on (AZ)

 ?? Fotos: Tom Rider ?? Diese beiden älteren Herren können noch immer den einst rebellisch­en Reiz und die rotzige Provokatio­n ihrer Musik heraufbesc­hwören: Keith Richards (links) und Mick Jagger (rechts) in Stuttgart. Auch dann, wenn der Sound zu wünschen übrig lässt …
Fotos: Tom Rider Diese beiden älteren Herren können noch immer den einst rebellisch­en Reiz und die rotzige Provokatio­n ihrer Musik heraufbesc­hwören: Keith Richards (links) und Mick Jagger (rechts) in Stuttgart. Auch dann, wenn der Sound zu wünschen übrig lässt …

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