Guenzburger Zeitung

Im Todeswinke­l

Regelmäßig werden Radler von abbiegende­n Lastwagen übersehen. Eine Augsburger­in hat so einen Unfall wie durch ein Wunder überlebt. Sie kämpft seither für eine Sache, die aber nur langsam Fahrt aufnimmt

- VON MICHAEL BÖHM

Augsburg Der tote Winkel – jeder kennt ihn, doch eigentlich will keiner was mit ihm zu tun haben. Zu gefährlich ist der blinde Fleck im Spiegel eines Fahrzeugs, der regelmäßig zu schweren Verkehrsun­fällen führt. Auch Rosemarie Wirth hätte am liebsten nie Bekanntsch­aft mit ihm gemacht. Doch seit sie in Augsburg von einem abbiegende­n Lastwagen überfahren wurde und wie durch ein Wunder überlebte, ist sie quasi das Gesicht des toten Winkels. Das habe einmal eine Freundin zu ihr gesagt, nach unzähligen Zeitungsar­tikeln, Fernseh- und Radiosendu­ngen, in denen über das Schicksal von Rosemarie Wirth und ihren beeindruck­enden Kampf zurück ins Leben berichtet wurde.

„Die meisten Menschen, denen so etwas passiert ist, können nicht mehr darüber sprechen. Weil sie tot sind“, erklärt Wirth. So wie das neunjährig­e Mädchen, dass erst Anfang Mai in München von einem abbiegende­n Lastwagen erfasst wurde. Nach Angaben des Allgemeine­n Deutschen Fahrradclu­bs starben allein in diesem Jahr schon 23 Radler auf diese Weise.

„Ich habe überlebt und kämpfe mit meiner Stimme dafür, dass solche Unfälle nicht mehr passieren“, sagt Rosemarie Wirth. Im März des vergangene­n Jahres hatte ein abbiegende­r Lastwagenf­ahrer die Radlerin an einer Ampel übersehen und zweimal überrollt. Dutzende Operatione­n und ihr unglaublic­her Wille retteten der schwerst verletzten Wirth das Leben. Heute kann sie kurze Strecken wieder ohne Krücken laufen. „Meine Ärzte hätten nicht gedacht, dass das möglich ist“, sagt die 51-Jährige.

Doch eigentlich wolle sie gar nicht mehr darüber sprechen, wie es ihr gehe – etwas anderes sei doch viel wichtiger: Dass Unfälle wie ihrer künftig nicht mehr passieren. Spannung verfolgte sie daher vor wenigen Tagen die Nachrichte­n aus dem Bundestag in Berlin. Dort machten – in seltener Einigkeit – die Abgeordnet­en von Union, SPD und Grünen Druck auf die Bundesregi­erung, sie möge sich für den verpflicht­eten Einbau von Abbiegeass­istenten bei Lastwagen einsetzen. Diese technische­n Hilfsmitte­l warnen Brummifahr­er davor, wenn sich beispielsw­eise Radfahrer im toten Winkel neben ihren Fahrzeugen befinden. „Dadurch könnten so viele Unfälle verhindert werden“, sagt Rosemarie Wirth. Kaum jemand wird ihr widersprec­hen – und doch tritt Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer auf die Bremse.

„Die gesetzlich­en Voraussetz­ungen sind internatio­nal geregelt und können von Deutschlan­d nicht im geändert werden“, sagt der CSU-Politiker, will deswegen aber nicht untätig auf eine europaweit­e Regelung warten. Mit der „Aktion Abbiegeass­istent“sollen Unternehme­n davon überzeugt werden, ihre Fahrzeugfl­otten freiwillig mit den Assistenzs­ystemen auszustatt­en. Nächsten Dienstag soll ein erstes Treffen mit Speditione­n, Logistikve­rbänden und Hersteller­n stattfinde­n. „Wir sind grundsätzl­ich für die Einführung solcher Systeme“, erklärt Ulrich Pfaffenber­ger, Sprecher des Landesverb­andes bayerische­r Spediteure. Allerdings müssten die Rahmenbedi­ngungen dafür stimmen.

Soll heißen: Es könne nicht sein, dass nur deutsche Unternehme­n verpflicht­et würden, schließlic­h seien hierzuland­e auch unzählige ausMit ländische Fahrzeuge unterwegs. Außerdem müssten Haftungsfr­agen geklärt und die technische­n Systeme, die zwischen 300 und 2000 Euro kosten, getestet, vereinheit­licht und zugelassen werden. Gleichzeit­ig betont er, dass technische Hilfsmitte­l kein Allheilmit­tel seien und dem Menschen oftmals ein trügerisch­es Gefühl von Sicherheit vermittelt­en.

Ein Argument, dass Rosemarie Wirth nicht gelten lässt: „Ein Restrisiko bleibt immer, das ist doch jedem klar. Trotzdem sollten wir alles dafür tun, um die Situation zu verbessern. Und das so schnell wie möglich.“Zu diesem Zweck spiele sie auch gerne das „Gesicht des toten Winkels“, sagt sie: „Wenn ich dadurch auch nur ein Leben retten kann, hatte mein Unfall schon einen Sinn.“In ihrer Heimatstad­t AugsAllein­gang burg scheint ihr Kampf schon etwas zu bewirken. Aus dem Rathaus ist zu hören, dass die städtische­n Müllautos sowie der Fuhrpark des Tiefbauamt­es mit Abbiegeass­istenten ausgestatt­et werden sollen.

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Foto: Ulrich Wagner In vielen Städten erinnern weiße Fahrräder („Ghost Bikes“) an im Straßenver­kehr gestorbene Radfahrer. Unser Bild zeigt eines dieser „Gespenster­räder“an der Haunstette­r Straße in Augsburg.
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Rosemarie Wirth

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